Communism

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Mittwoch, 30. Dezember 2015

"Moderne Antimoderne: Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus" von Volker Weiß



Leider fehlt mir gerade die Muße, um dieses Buch ausführlich zu besprechen. Es ist aber sehr gut: nicht nur ein Poträt eines faszinierenden reaktionären Intellektuellen, sondern auch eine Darstellung der Radikalisierung des deutschen Nationalismus seit dem Kaisserreich. Diese Entwicklung, vom altmodischen Imperialismus hin zu einer modernen, ultraagressiven völkischen Bewegung, betrieb Möller van den Bruck wie kein zweiter.

Dabei trug sein Hauptwerk zwar den Titel "Das dritte Reich" (1923), Teil der nationalsozialistischen Bewegung war er aber nicht - schließlich war diese bis zu Möllers Selbstmord im Jahr 1925 wenig mehr als ein bayrisches Lokalphänomen. Das lange Leben und Wirken van den Brucks - vom reaktionären Boheme, Ästheten und Architekturtheoretiker in der Kaiserzeit, zum staatstreuen Kriegspropagandisten im Weltkrieg, bis schließlich zum faschistischen Kulturfunktionär und Networker der republikfeindlichen Bewegung - bietet eine Gelegenheit, sich einmal mit dem deutschen Faschismus abseits des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Für diese Faschisierung des konventionellen deutschen Nationalismus steht sein Name.

An den Nazis war zwar vieles sehr spezifisch, sehr besonders, aber sie trafen auf eine bürgerliche Kultur, die bereits 90% des Weges unabhängig von ihnen gegangen war. Auch wenn viele Reaktionäre, wie van den Bruck ja auch, in einigen Fragen gewisse andere Abzweige genommen hatten, führte der Weg, den sie beschritten hatten, doch in ein und die selbe Richtung. In dem Kontext ist es sehr interessant, dass solche nach heutigen Maßstäben unbürgerliche und fanatisch irgendwelchen revolutionären Irrationalismen anhängende Intellektuelle, wie sie sich um Möller van den Bruck etwa im Juniklub versammelt hatten, unmittelbar von der Großindustrie oder vom Bankenwesen finanziert wurden - vielleicht war es naiv von mir, aber mich hat das, weil es ja noch so früh in der Republik war, überascht.

Das Buch ist auch als historische Darstellung sehr beeindruckend, denn Volker Weiß gelang es, eine Geschichte von Ideen und Positionen zu schreiben, die alles andere als abstrakt ist, sondern selbst ästhetische und kulturelle Diskussionen als eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung verflochten darstellt und damit erfahrbar macht, was ihnen damals ihre Relevanz und Dringlichkeit verlieh. Ich hätte zumindest nicht gedacht, dass ich mich für die Architektur der späten Kaiserzeit jemals so interessieren würde. Auch die Bedeutung van den Brucks für die Dostojewskirezeption ist mehr als nur ein faszinierendes Detail seiner Biografie: Dostojewskis Gesamtwerk hatte van den Bruck zwar nicht übersetzt, aber er gab es heraus und versah es mit Vorworten, welche für die in der Zwischenkriegszeit weit verbreitete antiwestliche Russlandromantik wichtige Impule lieferte. 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass zumindest einige Menschen hier in Ostdeutschland gerade ganz privat die 20er Jahre wieder auferstehen lassen wollen - dieses ganze faschistische und potentiell antisemitische Querfrontgerede, dieser Hass auf den Liberalismus und diese Liebe zum echten, alten, treuen Russland, die paranoide Wut auf unsere ausländischen Unterdrücker, und der verquere, falsche Antikapitalismus - also all das, was Elsässer & Co wieder auf die Straßen bringen wollen: diese ganze deutsche Scheiße. Zugegeben, allzu leichtfertige historische Vergleiche, und besonders das N-Wort, helfen bei der Analyse der heutigen Bewegungen oft nicht weiter, verstellen den Blick viel mehr, aber dennoch ist es bemerkenswert wie sehr diese Bewegungen zumindest in Teilen ein Revival des Faschismus der Weimarer Zeit vollziehen. Es ist gespenstisch. Gerade bei Elsässer, dem ja im Gegensatz zur Mehrheit seines Publikums alle diese historischen Bezüge und Äquivalenzen klar sein müssen, die er in seiner eigenen Demagogie vollzieht, handelt es sich wohl auch um eine bewusste Reaktivierung von Vorstellungen, die sich ja schon einmal als effektiv und mobilisierend bewiesen hatten. Bewusst, kalkulierend, manipulativ, so geht Elsässer meiner Ansicht nach vor.

Letztens habe ich  übrigens eine Ausgabe des Compact-Magazins (Thema war die "Asylflut") im Warteraum eines Arztes (!) gefunden. Was mich am meisten überrascht hat, ist die große Zahl an ehemaligen konservativen Politikern, mit denen Elsässer mittlerweile aufwarten kann. Das gäbe einen guten Magazin-Artikel ab, eine Forschung nach diesem erstaunlichen Phänomen der alten, eigentlich schon ausgedienten CDU-Parteisoldaten, die zwar in den Regierungen saßen, aber niemals wirklich ganz an der Spitze, für die sich also nach ihrer Pensionierung zumindest in den Medien niemand mehr interessiert und die dann auf ihre alten Tage - wohl aus Geltungssucht? - noch zu den Rechten gingen. Bei der AfD gibt es ja auch einige solcher Typen, am prominentesten Alexander Gauland.

Faschismus ist voll nerdig: Bismarckdenkmal in Hamburg, 1906(!) fertig gestellt.
    

"Irgendwann mal, ja, irgendwann einmal"


"Ich lag lange wie leblos nur lasch auf der Couch" - endlich ist meine Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert worden! Jetzt gibt es Tabletten! Yessss!

Freitag, 18. Dezember 2015

Nachtrag zu Grabenkämpfen in der AfD

Im letzten Post beschrieb ich den Konflikt in der AfD als einen zwischen Fundis und Realos. Dieter Stein, Herausgeber der Jungen Freiheit, zog jetzt in einem Artikel, in dem er den Parteiausschluss Björn Höckes forderte, genau den selben Vergleich zu den Grünen:
Für Höckes erneute, bewußt provokative Entgleisung muß die Parteiführung fast dankbar sein. Sie schafft den Anlaß, den Kurs der Partei deutlich zu klären. Will sich die AfD, die die einmalige Chance hat, sich als frische, moderne politische Alternative zu etablieren, von radikalen Sektierern Programmatik und Außenbild bestimmen lassen?
Auch bei den Grünen kam es in den achtziger Jahren zunächst zum Abbruch eines gemäßigten Flügels, später dann unter schweren Kämpfen zur Abtrennung eines linksextrem-fundamentalistischen Flügels. Es kam sogar zum Ausschluß von Landesverbänden. Ähnliches steht der AfD noch bevor. Die Reaktion des Bundesvorstandes von Sonntag war halbherzig. Die AfD könnte mit einem Befreiungsschlag nur gewinnen.
In einem irrt sich Dieter Stein hier: Flügelkämpfe und Ausschlussverfahren stehen der AfD nicht nur bevor, sie haben bereits stattgefunden - und die Fundis haben gewonnen. Auch  sind die stärksten Landesverbände nun einmal die im Osten, das wird sich auch bei den anstehenden Wahlen wieder zeigen. Aber offenbar geht Stein immer noch davon aus, das bürgerliche rechte Lager könne in der AfD einen Verbündeten finden und so den gesellschaftlichen Konsens verschieben.Verschätzt hat er sich ja schon einmal, nämlich als er sich im Sommer deutlich hinter Bernd Lucke stellte.

Ich will mal eine Faustregel aufstellen: Konservative Politik macht man entweder im Besitz der Macht - oder als geifernde Opposition. Aber eine moderate rechte Opposition? Was soll das bewirken?

Wer als Konservativer einfach nur irgendwie unzufrieden ist, der wird vielleicht weiter Sarrazin lesen und verbittern, aber er wird nicht aufstehen und das Land verändern. Um das anzustoßen braucht man die true believer, das haben doch die amerikanischen Neokonservativen bewiesen, von Goldwater angefangen, bis hin zu den Fundamentalisten und den paranoiden Libertären von heute. Wenn man eine konservative Bewegung anführen will, dann darf man keine Hemmungen haben: Moderat verliert.

Zum Glück, muss ich sagen. (Nicht, dass ich die Junge Freiheit in der Sache für moderat halte, aber ihre Strategie, sich nicht zu deutlich auf die echten rechten Bewegungen zu stützen ist es schon. Man fragt sich, ob da auch Angst um Bedeutungsverlust in der Szene mitspielt - ob man vielleicht befürchtet, dass die Leser zur Compact desertieren, o.ä. Aber ich denke vor allem ist es Sehnsucht nach gesellschaftlicher Akzeptanz.)

Montag, 14. Dezember 2015

Höcke ein Rassist!? Fundis vs. Realos in der AfD

Björn Höcke hat also etwas Rassistisches gesagt - wen erstaunt's? Wenn sich Teile der AfD jetzt von ihm distanzieren wollen, ist das vor allem ein heuchlerisches Medienspektakel. Aber auch Ausdruck realer Spannungen in der Partei. Deren Spaltung hat aber andere Gründe: Sie verläuft nicht zwischen Rassisten und Nicht-Rassisten, sondern zwischen Fundis und Realos.

Ich muss mich, glaube ich, noch ein wenig in der Kunst der Skandalisierung üben. Als ich mir vor ein paar Tagen die Rede von Björn Höcke anhörte, die er auf dem "Ansturm auf Europa!"-Kongress gehalten hat, der hier in der Nähe in Schnellroda beim Institut für Staatspolitik stattfand, ist mir zwar auch die Stelle mit den Afrikanern als besonders abstoßend formuliert aufgefallen. Aber der Gedanke, dass Höcke genau da eine besondere Linie überschritten habe, ist mir irgendwie nicht gekommen.  

(Das Video ist übrigens mittlerweile aus dem Internet verschwunden, ich habe mir aber eine mp3 heruntergeladen. Nicht mit irgendwelchen Hintergedanken, nur zufällig.)

Ich kann zwar verstehen, dass jetzt die Presse sich drauf stürzt und einen kleinen Skandal draus macht, denn Journalisten müssen schon lange nach einer Gelegenheit gesucht haben, um endlich einmal die beiden Worte "rassistisch" und "Höcke" in einem Satz als reinen Fakt präsentieren zu dürfen. Aber erstens, und da spricht wohl der Amerikanist in mir, finde ich einen Rassismusbegriff viel zu eng, der erst greift, wenn tatsächlich biologisch argumentiert wird. Und zweitens ist es ja selbstverständlich, dass Höcke ein Rassist ist. Wo ist da die Neuigkeit.

Die viel interessantere Frage, für die man aber etwas mehr argumentieren muss, anstatt Höcke einfach das Label "Rassist" zu verpassen, ist es meiner Ansicht nach, was es eigentlich bedeutet, dass Björn Höcke, André Poggenburg & Co sich so emphatisch mit dem Institut für Staatspolitik, Götz Kubitschek (und den Identitären, etc.) identifizieren. 

Ich denke, in diesem schönen Werbefilmchen, das auf dem Kongress entstanden ist, sagt Höcke das Entscheidende, ca. ab Beginn der zweiten Minute:

"dann ging es mir noch darum, die AfD als Partei zu beschreiben, die im Augenblick, weil der Ernst der Lage so groß ist, die Aufgabe hat, eine Fundamentalopposition zu sein, eine Bewegungspartei zu sein." 
Das ist der Kern der Sache: Bewegungspartei. Später beschreibt er die AfD als "letzte friedliche Chance für dieses Land".

Dem Millieu um das IfS und die Sezession, mit dem sich Höcke ja ausdrücklich identifiziert, geht es gar nicht vorrangig um eine "vernünftige Asylpolitik". Es geht ihnen, das erklären sie selbst, um eine grundlegende Umwälzung unserer politischen Kultur - das Flüchtlingsthema ist ihnen dazu vor allem ein wirksamer Hebel, an dem sie ansetzen können. Eine Lösung, und zwar selbst eine konservative, für das "Asylchaos" wollen sie ja gerade nicht: Erstens, soweit geht der Rassismus wohl doch, weil ihnen auch eine "gelungene" Integration von Ausländern Unwohlsein bereitet, zweitens aber, und das ist der wichtigere Punkt: Weil eine Lösung der aktuellen Herausforderungen, ja selbst eine Schließung der Grenzen zum jetzigen Zeitpunkt, die etablierten liberal-demokratischen Verhältnisse nur stabilisieren würde. Allein eine echte, grundlegende Krise könnte den, wie sie es sehen, eisernen linksliberalen Konsens in Deutschland ins Wanken bringen. Deshalb versuchen sie um jeden Preis, eine solche gesellschaftliche Krise entweder durch ihre paranoiden Dramatisierungen zu beschwören, oder eben durch ihre Politik der "Fundamentalopposition" zu befeuern. 

Natürlich hat auch wohl diese Menschen keine Freude befallen, als in Paris der Terror zuschlug, das sollte man niemandem unterstellen (außer natürlich Matthias Mattusek). Aber bestätigt gefühlt haben sie sich doch. Deshalb sammeln Rechte ja auch so obsessiv Nachrichten über Schlägereien in Flüchtlingsheimen, oder Ladendiebstähle, oder sonstige (ehrlich gesagt) Trivialitäten: Diese vorgeblichen Zeichen des kommenden Zusammenbruchs geben ihnen Kraft. Sie wollen die Krise. Sie wollen, dass der deutschen Gesellschaft einmal gründlich der Schrecken in die Knochen fährt, damit sie sich endlich von ihren liberalen Illusionen heilen kann. Ihr Ziel ist eine Kulturrevolution von rechts und eine langfristige und grundlegende Stärkung der authoritären Bürgerlichkeit auf allen gesellschaftlichen Feldern, nichts weniger.

Was sie nicht wollen, ist an der Seite der CDU, wie sie heute existiert, einfach eine konservativere Regierung führen.
Genau diesen Punkt sehen aber die "gemäßigteren", eher wirtschaftsliberalen Kräfte in der AfD, und auch das Millieu um die Junge Freiheit, anders. Die Junge Freiheit, die ja sehr lange auch persönlich enge Bindungen mit dem Sezessions-Kreis hatte, distanziert sich seit dem Erstarken der AfD zunehmend von dessen streng völkischer, antiliberaler Ausrichtung. Das kann man zum Beispiel daran beobachten, dass die JF dem upper-class-Rechten Nicolaus Fest, der ebenfalls auf dem Kongress in Schnellroda anwesend war, die Gelegenheit gab, sich in einem Interview deutlich davon zu distanzieren.

Aber man sollte sich nicht täuschen: Was ihre persönlichen Ansichten betrifft, sind diese Menschen sicher nicht weit von Höcke oder der sächsischen Straße entfernt. (Die angebliche  Unvereinbarkeit von konservativem (Wirtschafts-)Liberalismus und Ausländerhass, Islamophobie, und Nationalismus ist meiner Meinung nach eine bequeme konservative Lüge, s. z. B. Thilo Sarrazin.) Aber sie setzen große Hoffnungen darauf, dass sie bald, wenn sie sich erst etabliert haben, und wenn sich der Zeitgeist ausreichend nach rechts verschoben hat, wieder in das konservative Establishment aufgenommen werden können. Es ist ein Konflikt wie früher bei den Grünen zwischen Fundis und Realos. Neben echten Differenzen in der Einschätzung der "Reformierbarkeit" der Gesellschaft kreist der Streit vor allem um strategische Fragen: Wieviel Radikalität ist nützlich, ab wann fängt sie an, uns zu schaden?

Und natürlich ist es auch ein Konflikt, der Karrieristen gegen radikale Überzeugungstäter und Idealisten stellt. Jemand wie Nicolaus Fest, das spürt man in dem Interview deutlich, welches er der Jungen Freiheit gegeben hat, ist ja auch rechts, aber er hat offensichtlich Angst, aus dem Kreis der gesellschaftlichen Eliten verstoßen zu werden, zu denen er ja von Geburt an schon immer gehörte. Auch Frauke Petry hat nicht erst mit ihrem kürzlichen Besuch des Berliner Bundespresseball gezeigt, dass sie vor allem Erfolg haben und dazu gehören will. 

Björn Höcke aber, und das nehme ich ihm wirklich ab, ist ein Bundespolitiker wider Willen. Er fühlt sich spürbar unwohl im Rampenlicht und er ist ein schlechter Redner und Politiker. Vor allem aber ist er in seinem Habitus, in seiner Ideenwelt und auch in seiner Ausdrucksweise sehr weit vom traditionellen konservativen Oberschichtsmillieu entfernt - das hat er ja gerade erst wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Jemand wie Nicolaus Fest, aus altem bundesrepublikanischen Publizistenadel und ehemaliger Chefredakteur der Bild am Sonntag, weiß ganz genau, was er sagen kann, darf, muss und was nicht. Er weiß auch ganz genau, wie er sich nach einem Flirt mit der extremen Rechten möglichst distinguiert aus der Affäre ziehen kann. Ein Studienrat aus der thüringer Provinz weiß das nicht. 

(So deute ich jedenfalls Nicolaus Fests' tief unehrliches Interview mit der JF: Natürlich wusste Fest genau, auf was für einem Kongress er in Schnellroda gewesen ist. Jemand wie er, der so lange schon zum extrem rechten Spektrum der Publizistik gehört, weiß auch genau wie Götz Kubitschek tickt, und vor allem Jürgen Elsässer, der am Tag nach Björn Höcke zu einer Podiumsdiskussion geladen war. Aber als dann in den Zeitungen überall die Meldungen über rassistische Äußerungen Höckes erschienen, muss ihm ziemlich der Angstschweiß ausgebrochen sein, beim der Vorstellung, bald könne auch sein Name in dieser Verbindung fallen. Da besser in die Offensive gehen und sich auf die richtige Seite stellen. Ich muss sagen, ich finde das ziemlich schäbig.)

Aber Björn Höcke ist nun mal, trotz all seiner Fehler, und im Gegensatz zu so einem Salonfaschisten wie Fest, zu einer Art Volkstribun geworden. Er ist jener AfD-Politiker, der am unmittelbarsten die Energie der ostdeutschen Straße und PEGIDA für die Partei nutzen kann. Am interessantesten ist daher, wie dieser grundsätzliche Konflikt zwischen Fundis und Realos mit Machtkämpfen und persönlichen Rivalitäten in der Partei verschwimmt. Ohne den Osten, und das heißt, ohne Gauland, Poggenburg und Höcke, wäre die AfD längst von der Bildfläche verschwunden. Aber ohne die etwas gemäßigten Leute, die nicht mit Lucke die Partei verlassen haben, wäre sie längst vollkommen isoliert. Diese Realität beschreibt dann auch die Grenzen des innerparteiischen Konfliktes: Lucke konnte man noch loswerden, ohne die Partei zu gefährden, aber von nun an sind die Reste der Partei aufeinander angewiesen. Man könnte auch sagen: Zum gemeinsamen Erfolg verdammt. Nur gemeinsam, in dieser (auf dem persönlichen Level sicher tief hasserfüllten) Symbiose, ist die AfD überlebensfähig. 

Wenn also jetzt Höcke von Teilen des Bundesvorstandes angegriffen wird, dann nicht, weil sie ehrlich schockiert über ihn wären (noch einmal: ihre persönlichen Ansichten gehen sicher nicht weit auseinander - ich glaube nicht an eine Unschuld der Liberalen), sondern weil er das fragile Gleichgewicht dieses Balanceaktes gefährdet hat. Er soll gefälligst darauf achten, sich und die Partei nicht so angreifbar zu machen. Das ist alles, was die AfD von ihm verlangt. Denn im Moment ist er für die Partei immer noch ein großer politischer Gewinn.  

Und tatsächlich: Offiziell wurde Höcke nicht gerügt. Es wurde nur ein bisschen in seine Richtung gegrunzt, auch um die Presse zufrieden zu stellen. Nur einem einzigen, schreibt die FAZ, sei es erlaubt worden, sich von Höcke zu distanzieren - und das ist jetzt echt fast zum Lachen:
Dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen wurde [...] zugebilligt, mit einer öffentlichen Distanzierung auf Höckes Äußerungen zu reagieren, weil er als Wahlkämpfer in Baden-Württemberg von Höckes Äußerungen negativ betroffen sei.
Sie wissen, wie man das Spiel spielt. Überhaupt, das beweist ja auch gerade Donald Trump: Wer sich entschuldigt, verliert. Nur durch wohl kalkulierte Tabubrüche lässt sich der gesellschaftliche Konsens auf Dauer nach Rechts verschieben. 

Sehr enthüllend ist auch dieses Detail aus dem Artikel der FAZ:
Dass Höcke in der gleichen Rede auch von einem Staatszerfall der Bundesrepublik gesprochen und eine Rückwärtsentwicklung ins Mittelalter prophezeit hatte, wurde von der Parteiführung nicht kommentiert.

Eine Anmerkung will ich übrigens zum Schluss noch zu dem Nietzsche-Zitat anbringen, das so feierlich die Rednerbühne beim "Ansturm auf Europa"-Kongress zierte:
Der Staat [...] ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!
Ich finde es sehr amüsant, auf welche Weise die Passage hier gekürzt worden ist. Liest man das ganze Zitat, wird klar, warum Nietzsche für eine politische Vereinnahmung von rechts letztlich doch immer einen Tacken zu kritisch, zu sehr der Aufklärung verpflichtet ist, selbst in seinen mythischsten Momenten. Damit meine ich nicht, dass Nietzsche kein Reaktionär gewesen sei, im Gegenteil, aber... na ja, lesen Sie selbst. Die vom IfS verwendeten Passagen sind markiert:
Man sollte doch denken, daß ein Wesen, welches in die Entstehung des Staates hineinschaut, fürderhin nur in schauervoller Entfernung von ihm sein Heil suchen werde; und wo kann man nicht die Denkmale seiner Entstehung sehen, verwüstete Länder, zerstörte Städte, verwilderte Menschen, verzehrenden Völkerhaß! Der Staat, von schmählicher Geburt, für die meisten Menschen eine fortwährende fließende Quelle der Mühsal, in häufig wiederkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts – und dennoch ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!
(BTW: Vor kurzem starb Benedict Anderson, dessen Konzept der "imagined community" in den 80er Jahren einem dekonstruierendem Nationenbegriff neue Geltung verschaffte. Wirkliche advanced völkische, wie sie sich u.a. im Institut für Staatspolitik versammeln, haben natürlich auch diese Kehre mitgemacht. Für sie ist die historisch-soziale Konstruiertheit der völkischen Identität nur ein Grund mehr dieses wertvolle, fragile Ding doch bitte gründlich in Watte zu packen und vor jeder Erschütterung zu beschützen. Auf biologischen Rassismus ist so ein moderner ethno-Nationalismus, das muss man ehrlich zugestehen, gar nicht mehr angewiesen. Das praktische Resultat ist aber das gleiche, muss man auch ehrlich sagen.)

Sonntag, 6. Dezember 2015

The Party of Fear

Eine Republikanische PR-Aktion
Hier stellte ich die These auf, den Republikanern werde es nie wieder gelingen, eine moderate Partei zu werden. Als Partei der Oligarchie konnten sie seit Jahrzehnten nur breite Unterstützung finden, in dem sie niederste Instinkte verschiedener Art instrumentalisierten; Donald Trump ist schlicht das logische Endprodukt dieser Strategie und hat mit ihr noch einmal großen Erfolg. Die Widersprüche dieser Taktik sind allerdings zu groß, um auch auf lange Sicht noch Mehrheiten zu beschaffen - die ist in den USA, so wie in Deutschland ja übrigens auch, nämlich eher linksliberal und sozialdemokratisch eingestellt. 

In einem Interview (geführt von dem wunderbaren Vijay Prashad) beschreibt es Noam Chomsky ziemlich anschaulich:
It is important to bear in mind that the Republicans have long abandoned the pretence of functioning as a normal parliamentary party. Rather, they have become a “radical insurgency” that scarcely seeks to participate in normal parliamentary politics, as observed by the respected conservative political commentator Norman Ornstein of the right-wing American Enterprise Institute. Since Ronald Reagan, the leadership has plunged so far into the pockets of the very rich and the corporate sector that they can attract votes only by mobilising sectors of the population that have not previously been an organised political force, among them extremist evangelical Christians, now probably the majority of Republican voters; remnants of the former slave-holding States; nativists who are terrified that “they” are taking our white Christian Anglo-Saxon country away from us; and others who turn the Republican primaries into spectacles remote from the mainstream of modern society—though not the mainstream of the most powerful country in world history.
Für die Milliardärsklasse ist dieser lange Niedergang der Republikaner in den proto-faschistischen Wahn allerdings nicht unbedingt ein Problem. Erstens setzen sie großes Vertrauen in die Fähigkeiten der Demokraten, zuverlässig jenem Ausschus vorzusitzen, der die gemeinsamen Interessen der Bourgeoisie verwaltet (wie Marx den Staat beschreibt). Die aufgeklärteren von ihnen wissen sogar, dass die moderatere pro-kapitalistische Politik der Demokraten ihre Privilegien auf Dauer effektiver schützen wird als der kannibalistische Raubtierkapitalismus a la Scott Walker, et. al. (Rhania Khalek drückte es so aus: "Capitalism is a rapacious death cult with an insatiable appetite. Hillary Clinton wants to save it from itself.") Und das war ja auch die historische Aufgabe Obamas, die er mit Bravour erfüllte: nach der Finanzkrise eine politische Krise und Veränderungen zu vermeiden und für Stabilität zu sorgen.

Zweitens ist die Struktur des amerikanischen Regierungssystems bewusst derart konservativ aufgebaut,die gesamte amerikanische Gesellschaft und Politik derart dezentral, dass es der republikanischen Partei, auch ohne einen Präsidenten zu stellen, auf lange Zeit noch gelingen wird, die Agenda zu bestimmen und jede fortschrittliche Politik zu bekämpfen - in den letzten Jahren etwa dank ihrer Mehrheit im Senat. Als rechte "radical insurgency" sind die Republikaner immer noch sehr mächtig. Und ihre Macht wächst sogar noch, je weiter sie sich von der Realität entfernen: Je weniger sie zu Kompromissen bereit sind, desto effektiver üben sie als Opposition im altmodischen amerikanischen Regierungssystem Macht aus, welches anti-demokratischen Impulsen der Gründer folgend (konservative) Kontrolle der Regierung einfacher macht als tatsächlich Politik im Sinne der Mehrheit zu betreiben. Man denke nur an die groteske Institution des Filibuster.

Die Zukunft wird also eine Zunahme der Polarisierung vor allem in nicht-wirtschaftspolitischen Fragen bringen, ein Fortschreiten des Rechtsrutsches der Republikaner, und eine feste Etablierung der Demokraten als konservative zentristische Partei, die sie ja auch immer schon gewesen sind. 

Der Erfolg von Bernie Sanders ist in diesem Kontext kein Vorzeichen eines unmittelbar bevorstehenden politischen Wandels. Man muss kein pessimistischer Linker sein, um anzuerkennen, dass eine einzige Wahl keine jahrzehnte alten politischen Trends wird umkehren können. Auch hat er selbst keine Absichten, das Gesellschaftssystem grundlegend in Frage zu stellen. Sein Erfolg zeigt aber, dass viele Menschen sich eine Alternative wünschen - und zwar auch zur herkömmlichen Politik der Demokraten und zu Obama.

Freitag, 4. Dezember 2015

Die Vereinigten Staaten von Hayek


Freiheitskämpfer in gelöster Stimmung

Sean Guillory veröffentlicht auf seinem Blog regelmäßig Gespräche, die er mit Russlandkennern führt. Meist sprechen da Amerikaner über Russland, was schon interessant genug ist, aber diese Woche führte er ein Gespräch mit Ilya Matveev von der Universität St. Petersburg, der als russischer Linker seine Sicht der Dinge darlegt: "Neoliberalism in Russia". 

An einer Stelle beschreibt Matveev die merkwürdige Kombination zwischen dem (konservativen) Nationalismus der zweiten Putin-Ära, welche den Patriotismus in den Vordergrund stellt, und einer neoliberalen Sozialstaats- und Wirtschaftspolitik, welche das einzelne Individuum in die Verantwortung nimmt und kollektive und staatliche Lösungen für soziale Bedürfnisse ablehnt und langsam abbaut:
What the state, what Putin needs from the Russian population is that you are an atomized citizen, you're at home, you sit in your flat, you watch TV, you hate Ukranian nazism, you hate the enemies of the Russian state, you let Putin solve all these geopolitical problems, but on the other hand you rely on yourself. In your well-being you rely on yourself, you rely on yourself in welfare, in education, and so on. This is the kind of patriotism they want from people.  
Das Paradox eines nationalistischen Neoliberalismus. Klingt, was die Auswirkungen auf die Gesellschaft angeht, sehr amerikanisch. 

Für das heutige Regierungssystem verwendet Matveev den Begriff des Patrimonialismus, angelehnt an Max Weber. Er versteht es also als ein authoritäres System der persönlichen Herrschaft, in dem der Staat selbst privatisiert worden ist. Ironischerweise ist dies kein Widerspruch zum Neoliberalismus, sondern ein Ergebnis neoliberaler Reformen: Grundansatz der marktwirtschaftlichen Reformen in den 90er Jahren war es nämlich immer gewesen, eine Klasse der Reformer und der Manager der Gesellschaft zu erschaffen, die "isoliert" von öffentlicher und demokratischer Einflussnahme waren - die also gegen alle Widerstände das notwendige "Reform"programm durchdrücken würden. Aus dieser politischen Struktur erwuchs dann organisch der heutige authoritäre Staat. 

(Offensichtliche Ähnlichkeiten zur politischen Struktur der Europäischen Union sind nicht zufällig. Siehe etwa: "EU: Die stille neoliberale Revolution geht weiter." Was die Mächtigen an vielen der internationalen Institutionen, die unser Wirtschaftssystem neu strukturieren sollen, schätzen, ist es ja gerade, dass sie "isoliert" von demokratischer Kontrolle sind und idealerweise gleich als rein neutrale Vollstrecker der wirtschafstwissenschaftlichen Rationalität erscheinen können. In dem Sinne ist der Anti-Demokrat Friedrich von Hayek der wahre Vordenker der Europäischen Union wie sie jetzt existiert. Aus einem anderen Artikel dieser schönen linken österreichischen Website, "Was tun mit dem Nationalstaat? Ein linkes Dilemma": 
Von den „Strukturanpassungsprogrammen“ des Internationalen Währungsfonds in den 1990ern und 2000ern über die Auflagen der Eurogruppe für Griechenland bis hin zum „Investorenschutz“ in Handelsabkommen wie TTIP scheint die Mehrheit dieser internationalen Institutionen darauf abzuzielen, widerspenstigen nationalen Regierungen eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik aufzuzwingen.
Diese Hoffnung hatte schon der neoliberale Theoretiker Friedrich Hayek 1939. Er argumentierte dass in einer (europäischen) Union basierend auf freiem Verkehr von Waren, Kapital und Arbeitskräften, eine Schwächung nationaler Politik, während es Parteien und Gewerkschaften auf der übernationalen Ebene nicht gelingen würde, ihren Handlungsspielraum für eine andere Politik wiederzugewinnen.
Schon Karl Polanyi bemerkte in seiner Studie des Marktradikalismus des 19. Jahrhunderts, "Die große Transformation", wie auffällig oft marktwirtschaftliche Reformen durch einen die Macht zentralisierenden, authoritären Staat durchgeführt werden mussten. Aber, wie dieser Text bei Jacobin überzeugend argumentiert: Es ist unmöglich, hinter die europäische Einigung zurück zu gehen. Der Kampf wird entweder über die Gestaltung der EU geführt, oder er ist gleich verloren: "Unless the radical left takes a more sober look at the reality of the eurozone it risks locking itself in an impasse, fighting lost battles and arguing against the run of history.")

Bei le Bohémien erschien von mir anlassälich des 60. Jahrestages der Verhaftung von Rosa Parks eine Würdigung ihrer Person: Der Mythos Rosa Parks. Anders als man sie oft in Erinnerung behält, war Rosa Parks nicht einfach nur irgendeine gewöhnliche Frau, die eines Tages beschloss, gegen das Unrecht aufzustehen: 
Zum Glück ist dieses erbauliche Bild von Rosa Parks falsch. Es ist Ergebnis des Versuches, eine radikale Aktivistin für eine harmlose, unpolitische feel-good story zu vereinnahmen und uns eine Art entpolitisierte Theorie des gesellschaftlichen Wandels zu verkaufen, die niemandem mehr gefährlich werden kann. So wird Rosa Parks zur Erfüllerin der heroischen amerikanischen Geschichte stilisiert, zur Nationalheldin, welche den langen, aber mittlerweile angeblich so gut wie abgeschlossenen, Marsch in Richtung Freiheit und Gleichheit mitvollendete.
Ähnlich wie schon bei Martin Luther King müssen dafür die eigentlich politischen Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens in Vergessenheit geraten. Es ist ein weiteres Kapitel in der Reinwaschung amerikanischer Geschichte, auf dass diese vollkommen von ihren radikalen Traditionen befreit werde.
Was also das politische Leben von Rosa Parks abseits ihres einen berühmten Momentes wirklich ausmachte, dafür bitte den Text lesen. (Und um herauszufinden, wie ich auch dieses Thema dazu nutzen konnte, Hillary Clinton zu haten...)

Samstag, 28. November 2015

"Ronald Reagan was an Actor, not at all a Factor"


Bei Souciant erschien von mir im November eine Serie von Artikeln. Im ersten schrieb ich über das Potential eines bürgerlichen rechten Revivals im Zeichen der Flüchtlingskrise (Return of the Repressed), in den restlichen drei Texten geht es um die sich formierende Alternative Rechte, die man ja auch, in Abgrenzung zu Konservativen und Nazis gleichermaßen, oft Neue Rechte nennt. Ich mag die Bezeichnung "Alternativ": das herausstechendste an ihnen ist ja gerade, dass sie sich in rechter Opposition zu unserer Gesellschaft als Ganzes verstehen. An einigen Stellen formuliere ich vielleicht etwas dramatisch, aber die letzten drei Texte sind alle an einem Wochenende entstanden. Wie man so sagt - unter dem Eindruck der Ereignisse. Ich hoffe, dass ich noch einmal zu dem Thema auf Deutsch was schreiben kann, falls sich jemand findet, der das veröffentlicht.


Immer wenn ich mich viel mit Rechten beschäftige, ist gerade Musik ein gutes Mittel gegen deren bedrückende Welt. Deshalb Killer Mike. Oder Anderes:

Letzte Woche saß ich im Zug zwischen Eilenburg und Mockrehna, auf dem Weg zu einer Veranstaltung auf dem Land, bei der ein Haufen sächsischer Kartoffeln (die kartoffeligsten aller Kartoffeln dieser Welt) einmal gründlich ihrer Angst, ihrer Frustration und Wut Ausdruck verleihen wollten. Es war eine merkwürdige Reise - allein, um dorthin zu gelangen, musste ich nach einer langen Zugfahrt in die Provinz fast eine Stunde durch die pechschwarze Nacht laufen. Es begleitete mich dabei ein Interview mit einem Vertreter einer anderen politischen Bewegung aus einer anderen "strukturschwachen" Gegend in einem anderen reichen Land, mit einer anderen Bevölkerung, die sich von ihren Eliten verraten fühlt - ein Interview mit einem Sprecher der Cooperation Jackson nämlich. 

Mississippi ist der ärmste Bundesstaat der USA. In der Hauptstadt Jackson kämpft man mit den Folgen der dramatischen Deindustrialisierung: Arbeitslosigkeit, Armut, permanente Stagnation, aber auch Umweltschäden. Die Cooperation Jackson ist ein Versuch, alle diese Probleme auf progressive Weise zu lösen und eine Alternative zum herkömmlichen Modell zu finden, das darin besteht, mittels niedrigen Steuern, niedrigen Gehältern, laxen Umweltstandards und miesen Arbeitsbedingungen um Investoren zu betteln. 

Es war nur Zufall, dass ich genau in diesem Moment dieses Interview hörte, aber es wirkte wie eine Aufforderung, die Wutbürger doch bitte im richtigen Maßstab zu sehen. So eine Bewegung wie die Cooperation Jackson mag zwar wenig Aussichten haben, die tiefen sozialen Probleme in Mississippi zu lösen, aber sie zeigt deutlich, dass selbst Menschen in sehr schwierigen Umständen in der Lage sein können, sinnvolle und vernünftige Ideen zu entwickeln. Und dass es auf politische Traditionen und Ideen auch ankommt. Wer weiß, vielleicht sähe es in Jackson ohne das Erbe der Bürgerrechtsbewegung und der Black Panthers ebenso trostlos aus wie bei den ostdeuschen Querfrontlern und Neo-Nationalisten. 

Über schlechte politische Ideen ist in der Zeit ein Artikel erschienen: eine Rezension des neuen Buches von Phillip Ruch nämlich. Ich habe Ruchs Buch (dem Ruch sein Buch) nicht gelesen, aber vieles, was Wolfgang Ullrich in seiner Rezension beschreibt, bestätigt das, was ich schon vor einigen Wochen über die Weltsicht des Zentrums für Politische Schönheit geschrieben habe. Das einzige was in der Rezension fehlt, und wo ich mich frage, ob es wohl auch in Ruchs Buch keine Rolle spielt, ist die Bezugnahme auf amerikanische Neokonservative und Fukuyama. Vielleicht dachte Ullrich sich aber auch einfach, er könne bei seinen Lesern eher ein schauriges Gefühl erzeugen, wenn er gleich die alten schlimmen deutschen 'Traditionslinien' auspackt (Romantik, Heidegger, Jünger, Schmitt, etc.), anstatt mit Fukuyama zu kommen. Ich persönlich finde die Nähe zu den Neokonservativen noch viel verstörender, denn, wie ich auch hier deutlich machte, ergibt sich daraus eine Begeisterung für den liberalen Interventionismus, der das ganze Projekt Zentrum für Politische Schönheit viel mehr in Frage stellt als es die verquast-altmodische Weltsicht von Ruch jemals tun könnte. 

Ich habe auch einen Artikel für das Migazin geschrieben, über den amerikanischen Wahlkampf und die schäbige Debatte um syrische Flüchtlinge, die dort gerade stattfindet. Der entscheidende Abschnitt: 
Seit ihrer Gründung schwanken die USA zwischen diesen Polen, einerseits Ort der Freiheit und Hoffnung für Arme und Verfolgte aus der ganzen Welt zu sein – aber eben auch Träger einer bis in die Geburtsstunde der Republik zurückreichenden Tradition des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Und die Partei, die sich heute am stärksten dieser nativistischen Tradition bedient, ist die Republikanische, Refugium des reaktionären Teils der weißen Mittelschicht.

Für die Republikaner gibt es da nur ein Problem: Auch ihre Strategen haben mittlerweile begriffen, dass eine Partei, die sich allein auf die schrumpfende weiße Mehrheit stützt, aber alle Minderheiten verprellt, auf Dauer keine Wahlen mehr gewinnen wird. Hinzu kommt, und dieser Faktor ist kaum zu überschätzen, dass ganze Wirtschaftszweige wie die Landwirtschaft und verarbeitende Industrien von billigen Arbeitern aus Lateinamerika abhängig sind. Viele der großindustriellen Spender, die den Kandidaten die Wahlkämpfe finanzieren, lehnen deshalb eine einwanderungsfeindliche Politik strikt ab – allen voran die mächtigen libertären Brüder Charles und David Koch, die für den laufenden Wahlkampf eine Spenderkoalition aufgebaut haben, die über ein Budget von fast 900 Millionen Dollar verfügt. Auch die Großspender aus Sillicon-Valley, die in diesem Wahlkampf zum ersten mal ihre ganze (Finanz-)macht zeigen werden, sind fast durchgehend für mehr Einwanderung – auch sie sind auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen.

Für das republikanische Parteiestablishment galt deshalb lange Jeb Bush als idealer Kandidat: Seine mexikanischstämmige Frau milderte etwas sein Image, Teil des uralten weißen neuenglischen Geldadels zu sein. Auch hatte er, als Gouverneur von Florida, bereits unter Beweis gestellt, dass er weiß, wie man die Stimmen von Latinos kriegt. Gleichzeitig aber ist er loyal gegenüber industriellen Interessen, blieb also beim Thema Einwanderung immer „moderat“. Gerade diese Zurückhaltung bei der Hetze gegen Einwanderer kommt bei der Parteibasis allerdings gar nicht gut an und seine Kandidatur gilt mittlerweile als so gut wie gescheitert. Die Parteibosse mögen ihn zwar schätzen, die Parteibasis tut es nicht.

Der einzige, den diese Dilemmata nicht hemmten, war Donald Trump. Als Milliardär ist er von Großspendern völlig unabhängig und auch die Zukunft der republikanischen Partei scheint ihm ziemlich egal zu sein. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ohne Rücksicht auf irgendwen, kann er also der Basis das geben, wonach sie giert: Frauenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit – aber auch harte Kritik am republikanischen Parteiestablishment, das von viele konservativen Wählern völlig zurecht (wenn auch auf falsche Weise) als eine Ansammlung prinzipienloser, korrupter sell outs empfunden wird, die vollkommen in der Tasche von big business stecken. Kein Politiker pöbelt und beleidigt so gerne wie Trump, aber seine Sprüche richten sich eben nicht nur gegen die oft als übermäßig liberal empfundenen Medien, er spricht auch mit Bezug auf seine Parteigenossen schonungslos das aus, was alle denken: Jeder Präsidentschaftskandidat sei eigentlich schon vor der Wahl gekauft worden – außer ihm natürlich. Dafür lieben ihn seine Fans. Und auch bei der Hetze gegen mexikanische Einwanderer, die er als „Vergewaltiger“ und „Verbrecher“ diffamierte, musste Trump auf niemandes Gefühle Rücksicht nehmen.

Der Fall der syrischen Flüchtlinge bietet nun aber auch dem Rest der Partei eine Gelegenheit, die ausländerfeindliche Stimmung ihrer Basis zu bedienen, ohne ihren Geldgebern oder der wichtigen Wählergruppe der Hispanics auf die Füße zu treten.
Ich muss aber sagen, dass ich das ganze Phänomen Donald Trump nicht richtig ernst nehmen kann. Er wird niemals Präsident sein, da bin ich mir sicher - aber nicht, weil er zu rechts wäre, da mache ich mir keine Illusionen, sondern weil er nicht mit den traditionellen Machtzentren der Rechten kooperieren will. Das einzige, was er bisher wirklich erreicht hat, ist dann auch, der republikanischen Partei zu schaden. Ein Kandidat nach dem anderen, der sich als rechtspopulistische Alternative verkauft hätte (Ron Paul, Scott Walker, Ted Cruz, zuletzt Ben Carson) wurde von Donald Trump aus dem Rennen gestochen. Amerikanische Wahlkämpfe sind vor allem ein Kampf um Aufmerksamkeit, und da kann es mit Donald Trump niemand aufnehmen.  

Es war immer schon, spätestens seit Nixon '68, die zynische Strategie der Republikaner, für ihre genuin volksfeindliche Politik Mehrheiten zu beschaffen, in dem sie die hässlichen politischen Emotionen der reaktionären Mittelschicht bedienen: den Rassismus, den Nationalismus, den Anti-Kommunismus, den christlichen Fundamentalismus, den Anti-Feminismus, die Kriegsbegeisterung, die Verachtung für die Armen. Es gab in den letzten 50 Jahren keinen Republikaner und nur wenige Demokraten (unter denen sich Hillary Clinton nicht befindet), der da nicht mitgespielt hätte - wenn auch oft, wie gesagt, auf zynisch-kalkulierende Weise. George Bush etwa mag zwar persönlich tatsächlich kein Rassist oder Islamhasser gewesen sein (man lese nur diese wunderbare Rede, die er kurz nach 9/11 vor einer muslimischen Gemeinde hielt), als es aber darum ging, in der Bevölkerung Unterstützung im War on Terror zu finden, bediente sich seine Regierung selbstverständlich islamfeindlicher Stimmungen. Usw, usf, die Liste ließe sich ewig fortsetzen. 

Worauf ich hinauswill: Mainstreamkonservative sind nicht unschuldig. Sie haben immer schon bewusst niederste Instinkte bedient, um für ihre elitäre Politik Unterstützung zu finden. Dies hat über Jahrzehnte derart gut funktioniert, dass sie dazu gerne in Kauf nahmen, zur Entstehung einer sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernenden, immer gemeineren, aggressiveren und paranoideren chauvinistischen Subkultur beizutragen. Solange die Verwalter dieser Subkultur in den rechten Medien nicht vergaßen, wessen Lied sie letztlich immer treu zu singen hatten (und solange es nicht allzu viele Tote gab) war alles gut.

In Donald Trump haben diese Menschen schlicht jemanden gefunden, der ihr dreckiges Spiel besser, weil hemmungsloser, spielt, und der es sichtlich genießt, dass er sich nicht von ihnen kontrollieren lassen muss. Seinen Fans geht es überhaupt nicht darum, eine bessere Regierung zu kriegen, oder an ihren eigenen Lebensumständen irgendetwas positiv zu ändern. Es geht ihnen einfach darum, ihre abstoßenden, trotzigen Gefühle ausgiebig auszuleben und genießen zu dürfen - und das ermöglicht ihnen Donald Trump. Eine politische Kraft aber sind sie nicht und werden sie nicht sein. Sie sind einfach das logische Resultat einer sehr erfolgreichen Strategie der reaktionären republikanischen Partei - einer Strategie, könnte man anmerken, die sich nach Jahrzehnten endlich totgelaufen zu haben scheint. 

Für die Republikaner, das zeigt Trumps Erfolg deutlich, gibt es keinen Ausweg. Sie werden es nie wieder schaffen, eine moderate Partei zu werden. Und das, das ist das schönste an Donald Trump, schadet auch Hillary Clinton, die sich nunehr weniger leicht als "notwendiges Übel" andienen kann, als einzig sichere Möglichkeit, einen Republikaner im weißen Haus zu verhindern. 

Sollte es nicht bald einen ernst zu nehmenden republikanischen Kandidaten geben, dann gibt es eine echte Chance auf einen Politikwechsel im nächsten Jahr.

Dienstag, 24. November 2015

Der Crash ist die Lösung (denn alles Leben ist Kampf)

Lehnert: Das ist aber auch diese Art von Gleichschaltung... Die Wege sind doch so gleichgeworden. Man macht die Schule, alle gleiche Laufbahn, man macht einen Verwaltungsjob, dann ist es klar, daß sich die Gesichter nicht ausdifferenzieren können. Das ist sozusagen die reine Erbmasse, die noch durchkommt. Nichts Erlebtes.

Kubitschek: Das berührt ja, weg vom Ideellen, die materiegebundene Grundlage des Konservatismus, und überhaupt der Lebensführung, und das ist ja das, was wir in der Sezession hoch und runter geleiert haben in den letzten zwei Jahren. Die Wirklichkeit ist nicht mehr so gestrickt für den Einzelnen, daß man aufgrund der Lebensnot schauen muß, ob man überhaupt durchkommt. Also daß man verflucht aufpassen muß, daß man die Weichen nicht falsch stellt. Heute kann alles abgefedert werden. Jeder Schicksalsschlag, jede falsche Entscheidung im Leben kann abgefedert werden dadurch, daß man unendliche Mengen Kompensationsmaterie nachkippen kann - zum Beispiel, um eine völlig verranzte Erziehung zu kompensieren. Das sieht man hier an den Schulen überall. Man erzieht die Leute nicht mehr, sondern man kompensiert, wenn sie verzogen rumstehen und noch nicht mal eine simple Lehre absolvieren können. Die werden mitgeschleppt auf Teufel komm raus, die hugnern und frieren nicht, die spüren von klein auf: Es geht immer ziemlich komfortabel weiter. Es wird immer alles kompensiert. Da hat dann der konservative Begriff vom Leben, unser Begriff vom Leben, überhaupt keine Chance mehr. Überhaupt in die Tiefe vorstoßen zu können ist ja nurmehr ein frommer Wunsch. Die Aushebelung des Schicksals, die Aushebelung der falschen Entscheidung hat das Konservative an sich zerstört. Also die Hierarchie, die Würdigung der besseren Leistung, die Würdigung der besseren Erziehung, die Würdigung der Anstrengungsbereitschaft, die Würdigung dessen, der Schmerz aushalten, der sich zusammenreißen kann, das ist ja alles passé. Sich nicht zu verkrümeln, wenn's drauf ankommt - das spielt keine Rolle mehr. All das, was ein Konservativer unterschreiben kann als notwendiges Sortierungskriterium innerhalb einer Gesellschaft - wenn das alles ausgehebelt ist, dann haben wir, mit unserer Weltanschauung, überhaupt keine Chance mehr. Das Schlimmste, was uns geschehen kann, ist das energetische perpetuum mobile, also daß es mit den materiellen Kompensationsmöglichkeiten immer weiter geht. 

[...]

Kositza: Das ist aber doch das, was Erik am Anfang sagte. Seit dreißig Jahren heißt's immer wieder, der große Knall kommt, bald, jetzt, demnächst... Der kommt aber nicht. 

Kubitschek: Wir haben vor 20 Jahren nicht geglaubt, daß es so bleiben kann, wir haben's vor zehn Jahren nicht geglaubt, daß es so bleiben kann, aber der Mensch ...
(Aus:"Tristesse Droite - Die Abende von Schnellroda." Antaios Verlag, 2015.)

"Der Crash ist die Lösung" ist der geniale Titel eines Buches der zwei Ökonomen Matthias Weik und Marc Friedrich, das vor einem Jahr erschien und in den Nachwehen der Finanzkrise und der Eskalation der europäischen Schuldenkrise einen ziemlichen Erfolg hatte. Mit der Vorraussage, der echte finanzielle Kollaps stehe noch bevor, traf es einen Nerv. Mit der grundlegenden Kritik an wachsenden Staatsausgaben und -schulden sowie den großangelegten "Rettungsprogrammen" haben die Autoren darüber hinaus die staatsfeindlichen Vorstellungen einiger echter Rechtslibertärer ebenso bedient wie das Gefühl des vermutlich größeren Teils ihrer Leserschaft, Opfer einer außer Kontrolle geratenen staatskapitalistischen und sozialstaatlichen Struktur geworden zu sein. Der Rat der Autoren: Bereitet euch vor! Flüchtet in Sachwerte! Unserer Wohlstand, unsere ganze Wirtschaft ist auf Sand gebaut, ist eigentlich schon gar nicht mehr real - alles, was uns heute umgibt, könnte sich schon morgen als eine gefährliche Täuschung erweisen. Aber der Crash wird auch sein Gutes haben: Er wird es uns ermöglichen, zu einer besseren, gesünderen, echteren, weniger abgehobeneren, konkreteren Form des Wirtschaftens zurückzukehren. Und wer jetzt schon seinem eigenen Verstand vertraut, sich nicht von den Durchhalteparolen der Systemeliten einlullen lässt, sondern sich vorbereitet, der wird sowieso zu den Gewinnern gehören. In der Zukunft werden das Maßhalten, das Sparen, der Fleiß, eben die - nicht nur im materiellen Sinne - echten Werte wieder zu ihrem Recht kommen. 

Ein anderes Buch der beiden Autoren heißt: "Der größte Raubzug der Geschichte: Warum die Fleißigen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden." Wer sich als fleißiges Mitglied der Mittelschicht (auch durch immer steigende Abgaben und Steuern) ausgepresst und übergangen fühlt, der kann auf den Zusammenbruch hoffen. Dann werden wieder, wie Götz Kubitschek es so eindrucksvoll sagte, "die Hierarchie, die Würdigung der besseren Leistung" als "notwendiges Sortierungskriterium innerhalb einer Gesellschaft" zu ihrem Recht kommen.

Zugegeben, genauso steht es nicht im Buch, but you get my point.

Es ist immer sehr erhellend die deutsche Rechte mit der amerikanischen zu vergleichen, u.a. um allzu simple Vergleiche mit dem Faschismus auszuschließen, die sich ja vielleicht manchmal zu leicht einstellen. Was zum Beispiel haben AfD und Tea Party gemeinsam - und was nicht? Was hat es zu bedeuten, dass es in den USA eine eigene Form der Reichsbürger gibt, die  Sovereign Citizens? Und was ist dann das deutsche äquivalent zu Preppern? Was ist die Verbindung zwischen (marktradikalem) Liberalismus und kulturell und sozial konservativen Einstellungen oder dem christlichen Fundamentalismus? Gibt es da einen echten Widerspruch oder vielmehr eine wirkmächtige Symbiose? Und was hat all das mit der typisch rechten Sehnsucht nach Krieg und offenem Kampf zu tun? Warum eigentlich war so vielen Konservativen nach dem 11. September die Freude darüber anzumerken, dass die Zeit des "ironischen", belanglosen [weibischen] Friedens vorbei sei? Warum ist Rechten der Frieden so unangenehm und was finden sie an Wohlstand ohne Anstrengung (für die unteren Schichten) so gefährlich? Und was ist diese Besessenheit vom Gold?

Ich könnte da ein ganzes Buch drüber schreiben.

(Lasse es aber besser für heute. Vielleicht hat es ja eh Fight Club schon am besten erklärt. Oder Corey Robin.)

Mittwoch, 18. November 2015

Im Herbst 2012 liest sich die Geschichte der Familie Zarnajew wie ein Drehbuch der Coen Brüder. Der Vater, einst Boxer, ist ein Wrack. Die Mutter eine Diebin. Die konservative Tochter, Bella, wird beim Drogendealen erwischt, die andere, Ailina, als Komplizin von Geldfälschern. Der Älteste, das «Meisterwerk», ist ein arbeitsloser Hausmann.
Aus der empfehlenswerten Reportage von Jan Wiechmann über den familiären Hintergrund der beiden Brüder Zarnajew, die vor zwei Jahren den Anschlag auf den Marathon in Boston verübten. Liest sich sehr spannend und böte tatsächlich Stoff für einen Film. Man sieht es fast vor sich: Tamerlan, wie er mit Krokodilslederschuhen und Seidenhemd vor einigen kaukasischen Rentnern glücklich am Keybord steht und Volkslieder singt. Gleichzeitig ist es eine interessante Beschreibung eines "Radikalisierungsprozesses" mit allem, was das so beinhaltet. Ich vermute, das wird in Europa auch nicht sehr anders ablaufen, obwohl ja das besondere an den Zarnajews war, dass sie trotz aller Versuche (sie sind dafür extra nach Tschetschenien gereist) keinen Anschluss an islamistische Gruppen, geschweige denn an radikale Jihadis, finden konnten. Als typische junge Amerikaner beschränkte sich dementsprechend selbst ihre islamistische Bildung auf das völlig bekiffte Anschauen von verschwörungstheoretischen YouTube-Videos. 

Eine Perspektive aus der ersten Person bietet dieser ältere Artikel von Yasha Levine, einem Journalisten, der - selbst nur wenig älter als Tamerlan Zarnajew - ebenfalls als Flüchtling aus einer ehemaligen Sowjetrepublik nach Amerika gekommen ist: 
Growing up in San Francisco, I didn’t know any Chechens (apparently there are only 200 in the entire United States) but I did know plenty of people from other former Soviet Republics: Kyrgyzstan, Tajikistan, Azerbaijan, Ukraine, Armenia and mainland Russia.

And yes, from what I saw and experienced first-hand, background had a lot to do with how well they assimilated into American society. Kids who came from bigger cities, from well-educated and stable families did pretty well in the U.S., kids from fucked up families did worse, and kids from fucked up families in fucked up places did worst of all. The more fucked up the place they came from, the more trouble the kids had adjusting to life in neat, orderly America. Especially a place as stuck up, comfortably-yuppie as San Francisco in the early stages of the dot-com boom.
[...]
It’s pretty obvious, if you grew up with the people I knew when I was young, that a brutalized culture like the one my Armenian friends had experienced produces brutalized people. It’s a silly romantic myth that oppression creates noble victims. Oppression creates monsters, and the brutality those Armenian guys went through made them cruel and callous.
I’m not arguing that every Chechen or Muslim who immigrates to the U.S. to escape a life of brutality and oppression is a potential terrorist. What I am arguing is that people are affected by their experiences, and driven by them.

Mittwoch, 11. November 2015

V. for Valletta

Seit heute beraten in Valletta die Vertreter der EU mit ihren Partnern aus Nord- und Ostafrika über ihre neue, vertiefte Zusammenarbeit angesichts der wachsenden Migrationsbewegungen. Was seit über einem Jahr in gemeinsamen Gesprächen, im Khartoum-Prozess etwa, aber auch in permanenten Gesprächen über Entwicklungs- und Migrationspolitik vorbereitet wurde, soll in den nächsten Tagen in Valetta in einer neuen gemeinsamen Politik der EU und Nordafrika festgelegt werden. Die EU will nicht nur den Nordafrikanischen Staaten helfen, die Migration besser zu kontrollieren und menschenwürdiger zu gestalten, sondern auch, da ist sie ganz offen, Mitarbeit dabei erkaufen, doch auch die Zahlen derer zu begrenzen, die den ganzen weiten Weg nach Italien schaffen. Die Festung Europa soll nicht erst in den internationalen Gewässern vor Lybien beginnen, sie soll mit den bald durch EU-Geld unterstützten Polizeikräften Ägyptens, des Sudans, und vieler anderer Staaten, die ihre Bevölkerung mit Gewalt unterdrücken, auch schon in der Peripherie seine Grenzposten haben. Auf welche fatale Weise da Prinzipien einer aufgeklärten Entwicklungspolitik unter die Räder geraten, habe ich vor fast zwei Wochen am Beispiel Eritrea ausgeführt - zu lesen hier im Migazin. 

(Man könnte übrigens anmerken, dass die EU außer der normalen Entwicklungshilfe, über die ja auch gerade beschlossen wird, gerade mal kümmerliche 1,8 Milliarden für die Autokraten Nordafrikas als Extra eingeplant hat. Erdogan hat viel mehr gekriegt.)

Weil der Name Valletta mich an den ersten Roman Thomas Pynchons erinnerte, mir aber nicht gleich einfiel, worin genau die Verbindung besteht, gab ich es einfach in google ein. Dabei begegnete mir das folgende Zitat aus Pynchon's Roman "V.", welches entfremdet, aber erstaunlich stimmig, die Verwirrung der aktuellen europäischen Flüchtlingskrise beschreibt, in der ja auch die widersprüchlichsten Realitäten aufeinander prallen, gesetzliche und politische Strukturen zu wanken beginnen, und ehemals verlässsliche Wirklichkeiten über Nacht sich als aufgehoben erweisen. Wäre ich Syrer in Deutschland, ich könnte diese Ungewissheit nicht ertragen.
“He had decided long ago that no Situation had any objective reality: it only existed in the minds of those who happened to be in on it at any specific moment. Since these several minds tended to form a sum total or complex more mongrel than homogeneous, The Situation must necessarily appear to a single observer much like a diagram in four dimensions to an eye conditioned to seeing its world in only three.”
Außerdem interessant und bewegend: The tattoos Eritreans get before they leave for Europe.

Bei Souciant erschien ein Artikel von mir über den Rechtsruck, den wir gerade in Deutschland erleben müssen, der sich aber, meiner Ansicht nach, schon lange Zeit untergründig ankündigte: "Return of the Repressed." In einer Serie von Artikeln, von denen der erste gerade erschienen ist, versuche ich dann direkt diese erstarkende alternative Rechte zu beschreiben, die da gerade eine authoritäre Politik neu erfindet. In "The New Nazism" stelle ich die unangenehme Frage, was es eigentlich heißt, wenn sich all diese Menschen, die wir gerne und sicher meist auch zu Recht als "Nazis" bezeichnen, sich nicht als solche selbst verstehen - sondern oft sogar behaupten, sie seien antifaschistische Freiheitskämpfer.

Montag, 9. November 2015

"WIPE 'UM!"


Nach modernen Klassikern wie "The Biggest Sip", hier eine Vorschau auf das neueste Meisterwerk der wint corporation. Cool und gut, wenn ihr mich fragt.

Und für etwas ganz anderes: Ich habe mich in den letzten Tagen durch eine alte Fernsehserie aus den 60ern gehört: Günter Gaus setzt sich mit einer politischen Person für eine Stunde in ein verrauchtes Studio und führt ein Gespräch mit ihr - ohne irgendwelche Ablenkung, ohne Unterhaltung, ohne bullshit vor allem. Mir gefällt auch die unsentimentale Art, in der die meisten Gesprächspartner miteinander umgehen: Weder, und das merkt man besonders bei den Gesprächen mit Politikern wie Wehner, Brandt, aber auch Rudi Dutscheke, versucht Gaus um jeden Preis konfrontativ zu wirken - aber genau so wenig geht es ihm jemals darum, irgendeine emotionale Performance zu provozieren, die es dem Zuschauer erlauben würde, "mitzufühlen". Er behandelt seine Gegenüber wie erwachsene Menschen, welche die entsprechende Distanz auch zu sich selbst haben, und vor allem: Deren Gedanken es wert sind, gründlich gehört zu werden. Am besten ist das Interview mit Hannah Arendt:



Ich liebe diese altmodische Art zu sprechen, so überlegt und gründlich, als sei es wichtig, die Worte richtig zu setzen, als käme es auf sie an. DAS JIBS JA HEUTE GAR NICH MEHR!

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Die nordafrikanische Flüchtlingskrise


Das Internetportal statewatch.org veröffentlichte eine Erklärung eines Treffens des „Steering Committees“ des Khartum-Prozesses in Sharm el Sheikh vom April diesen Jahres. Darin ist von der „Stärkung der menschlichen und institutionellen Kapazitäten“ der Polizeikräfte in Eritrea und dem Südsudan die Rede. Wie diese Stärkung konkret aussehen soll und wie viel Geld von der EU an welche Stellen genau fließen wird, bleibt offen. Transparent ist dieser Prozess nicht, Informationen werden geheim gehalten. Vor Ort in Sharm el Sheikh war auch eine deutsche Gesandtschaft.
So steht es in einem neuen Artikel von mir im  Migazin, der sich mit der einfallslosen und oft zynischen Nordafrikapolitik der EU befasst. Einen Aspekt dieser Politik habe ich allerdings nicht besprochen: Die ungerechte Handelspolitik der EU, vor allem die europäischen Agrarsubventionen, die der afrikanischen Landwirtschaft die Luft abschnüren. Es wäre Aufgabe der Linken, die EU dazu zu zwingen, endlich in diesem Zusammenhang für Gerechtigkeit zu sorgen, wenn sie denn so erpicht darauf ist, "Fluchtursachen zu bekämpfen".

Zufällig bin ich gerade in Vijay Prasahds wunderbaren Buch "The Poorer Nations - A Possible History of the Global South" über die folgende Passage gestolpert, die zwar eine Situation aus den 80ern beschreibt, aber die Heuchelei und Ungerechtigkeit der entwickelten Staaten in dieser Frage, an der sich ja bis heute wenig geändert hat, ziemlich gut auf den Punkt bringt. Hintergrund ist die Entwicklungskonferenz in Cancun 1981. Die Schuldenkrise der dritten Welt stand bevor, und gerade war der "Brandt Report" erschienen, in dem eine gerechtere globale Handels- und Entwicklungspolitik gefordert wurde. Gleichzeitig hatte jedoch mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher der hart rechte Neoliberalismus die Kommandohöhen der Weltwirtschaft erobert:
India's Indira Ghandi spoke of the need for agricultural subsidies; but her heart was not fully in it. Ghandi had vacillated between the road to socialism and the IMF's road since the early 1970s. It was her vote bank in rural India that won her the election in 1980, and it was this vote bank - meinly large and middling farmers - whose well-being was sustained by governmental subsidies. Reagan cut her off. "This is cheating," he said, "Subsidizing agriculture is cheating." Tanzania's Julius Nyerere was in the meeting and was clearly confused. He stopped Reagan, which was itself an unusual occurence: "But President Reagan, I have the figures here about your subsidies," he said, referring to the considerable US government subsidies to its agribusiness sector. Nyerere read out the numbers. Reagan consulted with his team. After a while, he said, "But the subsidies were established by Carter." No more was allowed of such heresy.
Gott, Ronald Reagan war ein Idiot.

Samstag, 24. Oktober 2015

Lügenpresse! Oder: Warum ich mich erschießen werde, wenn niemand außer RT mir einen Job gibt.


Man kann durchaus empfänglich für diese Minstrel-Performance eines freundlichen korporativen Staates sein. Für die Vorstellung, dass wir in der Deutschland AG alle an einem Strang ziehen und von einer soliden Elite in weiser Vorraussicht geführt werden. Gerade in einer sich globalisierenden Welt hat der Gedanke einer nationalen (wenn’s sein muss, sogar ein bisschen korrupten!) Wirtschafts- und Machtelite auch etwas beruhigendes – ist nicht das wunderbare an „Seilschaften“, dass sie nicht so anonym sind wie der Aktienmarkt?
So schrieb ich über meinen fast schon ein Jahr zurückliegenden Besuch bei der ersten AGENDA-Konferenz des Tagesspiegels. Worum es sich dabei handelt und was ich dort erlebt habe, kann man meinem Bericht auf le bohémien entnehmen, einer überhaupt sehr guten Website voller interessanter politischer Artikel.

Auch ein Leserkommentar wurde dort hinterlassen, der mich allerdings etwas deprimiert: "Danke für den Bericht zu dieser Veranstaltung", lautet er. "Ich lese als Quintessenz: Der Tagesspiegel gehört zu Lügenpresse und dient sich als Medienhure an." 

Ist das schon "Beifall aus der falschen Ecke", den ich da gekriegt habe? Es wäre nicht das erste mal: Schon als ich vor einigen Wochen einen ZEIT-Artikel kritisierte, welcher die russische Regierung angriff, wurde mein Artikel auf einigen Blogs gepostet und verlinkt, die - sagen wir es mal so - in etwas unseriösem Habitus eine Kritik des westliche Establishments und der entsprechenden Medien formulieren - und das mit einer ungesunden Intenstiät und Ausdauer. Nicht unbedingt Rechte, denke ich (habe das nur kurz überflogen), aber trotzdem ein ziemlich düsterer Teil des Internets, voller Wut, Frustration und Empörung - voller Begriffe wie "Medienhure" eben.

Es ist ein großes Dilemma, das ich immer empfinde, wenn ich etwas "Medienkritisches", "Anti-imperialistisches", "Kapitalismuskritisches" oder sogar "Anti-amerikanisches" schreibe, ein Dilemma, dem man sich selbstkritisch stellen muss: Wo gibt es in dem, was ich sage, Berührungspunkte mit dem anderen Modus der Dissidenz gegen den Zeitgeist, der heute im Aufschwung ist, nämlich mit den Rechten und den Verschwörungstheoretikern? 

Manchmal glaube ich, die Front National ist die echte Avantgarde unserer Zeit. In ganz Europa, in den USA schon lange, gibt es diese neuen rechten Bewegungen, die ihre Energie auch aus einer anti-neoliberalen, verzerrten Kapitalismuskritik beziehen: Früher, vor der Globalisierung und der ganzen Einwanderung, hat unsere Demokratie noch funktioniert, sagen sie, aber jetzt wurde uns unsere Souveränität von internationalistischen (Finanz-)mächten geraubt. Im besten Falle meint man damit dann den real existierenden globalen Kapitalismus und seine Institutionen - im schlimmsten Fall die Amerikanische Ostküste, Codewort für du-weißt-schon-wen.

Auf der anderen Seite sollte man sich als Linker aber auch nicht von solchen leeren Kampfbegriffen wie "Populismus" erpressen lassen - als sei alles, was nicht dem liberalen Mainstream entspricht, allein einem ungesunden, ressentimentgeladenen Irrationalismus entsprungen. Andererseits: Gäbe es noch eine selbstbewusste und breit aufgestellte antikapitalistische Linke, die stolz auf ihre emanzipatorische Tradition ist, anstatt sich in bitterer Selbstkritik und in Rückzugsgefechten zu zerreiben, ließe sich das leichter sagen. Uns fehlt eine seriöse, organisierte, radikale Gegenöffentlichkeit - was wir stattdessen haben sind akademische Ghettos, szenige Bedeutungslosigkeit und einen Haufen isolierter, orientierungsloser Menschen mit Internetzugang. Und dann, als bescheuerten Luftzug im Vakuum, eben so was: 


Vielleicht auch aus persönlichen Gründen, weil ich mich von 90% des medialen und politischen Establishments ziemlich entfremdet fühle, aber irgendwann wahrscheinlich doch einen Job brauchen werde, habe ich ein geradezu körperliches Unbehagen im Angesicht von verschwörungstheoretischem Vokabular. Gerade weil ich einige Ansichten habe, die dem Konsens unserer Zeit oft widersprechen, gerade deshalb wird mir schlecht, wirklich schlecht, wenn ähnliche Ansichten auf dumme, unsachliche, oder hetzerische Weise vertreten werden.

In meinem Studium habe ich mich zum Beispiel ausgiebig mit der amerikanischen Außenpolitik während und nach dem Kalten Krieg beschäftigt, die ja in Deutschland zwar von vielen sehr kritisch gesehen wird, aber nur von wenigen - und da eben oft den falschen - ganz grundlegend in Frage gestellt wird. Ein großer Dienst, den eine aufgeklärte, radikale Kritik an der amerikanischen Außenpolitik der Öffentlichkeit gegenüber leisten kann, läge darin, eine Analyse der scheinbaren Irrationalitäten und Verbrechen dieser Politik zu liefern, die diese, und die Welt insgesamt, auch wirklich verständlicher macht. Eine Analyse, die nicht dämonisiert und von schattenhaften Mächten redet, sondern die Hintergründe beleuchtet und komplexe Ursachen benennt - und dann eben auch Auswege kennt. Und die trotzdem nichts an ihrer Radikalität einbüßt: Aufklärende, radikale Kritik - wie Marx über den Kapitalimus. Früher war so ein (mal mehr, mal weniger differenzierter) Antiimperialismus, der sicher auch seine Probleme hatte, noch eher Teil der Öffentlichkeit - aber heute fehlt da etwas. Es fehlt ganz insgesamt ein politisches Vokabular, das die neoliberale Hegemonie in Frage stellt und uns helfen könnte, uns in der Gegenwart zurecht zu finden. Ein Vokabular etwa, dass es uns erlauben würde, ideologische Hegemonie zu beschreiben, ohne in Unterdrückungsfantasien a lá "mediale Gleichschaltung" oder eben "Lügenpresse" zu verfallen. Und diese Lücke füllen eben rechte Idioten. Die haben keine Hemmungen.  

Nebenbei gesagt halte ich die grassierende Faszination für "Lügen", "versteckte Wahrheiten" oder "Verschwörungen" auch für ein Zeichen unserer Entpolitisierung. Nur Menschen, denen das Gespür dafür verloren gegangen ist, dass es grundsätzlich verschiedene gesellschaftliche Interessen und antagonistische, sich gegenseitig ausschließende politische Positionen und Weltsichten gibt, und dass es ganz normal und gesund ist, dass man sich entlang dieser Linien bekämpft, nur solche Menschen brauchen so fantasievolle Erklärungen dafür, dass die Welt und die Regierung nicht so will, wie sie das wollen. Und wo es keine grundsätzlichen ideologischen Diskussionen mehr gibt, da wird dieses Bedürfnis der Auseinandersetzung auf bestimmte Ereignisse projiziert, um die man sich stattdessen bitter und endlos streiten kann. Anstatt also bittere und endlose Diskussionen über weltanschauliche Fragen, wie es auch gut und notwendig ist, gibt es dann bittere und endlose Diskussionen über die Anthraxbriefe und die Bilderbergkonferenz, was zu nichts führen kann.

So viel zur Kritik der Gegenöffentlichkeit. Um die Öffentlichkeit selbst, das muss auch gesagt werden, steht es allerdings auch nicht besser (s. etwa mein Artikel über den Tagesspiegel.) Deshalb will ich zum Schluss noch diesen faszinierenden Artikel aus der New York Times empfehlen, welcher der Frage nachgeht, welche journalistischen und kulturindustriellen Mechanismen eigentlich die "story" der Tötung von Osama bin Laden für die Öffentlichkeit produziert haben - und was wir wirklich darüber wissen (können), was damals geschehen ist. Es ist eine sehr spannende Geschichte, die einiges über unsere heutige Medienlandschaft verrät, über diese merkwürdige Dialektik aus - technologisch bedingtem - unfassbar direktem und hautnahen Zugriff auf mediale Ereignisse und dem sich trotzdem verbreitenden Unbehagen an einer brüchigen, aufgesplitterten Öffentlichkeit, der man nicht mehr zu trauen wagt. 

Angeblich, das wurde auf der ganzen Welt verbreitet, hat nämlich der Präsident und sein Stab den Überfall auf die Villa bin Ladens per live stream (!) verfolgt. Und das Videomaterial sollen Kameras geliefert haben, die auf die Helme der Navy Seals montiert waren, die also das ganze live und in Ego-Shooter-Perspektive nach Washington übertragen haben. Natürlich stimmt das nicht, aber allein schon die Vorstellung, und die Tatsache, dass diese Information verbreitet wurde... 

Die Wut, die einem aus den Kommentarspalten unserer Zeitungen entgegenschlägt, rührt sie nicht auch daher, dass wir dank des Internets an allen Ereignissen unmittelbar und persönlich beteiligt sind - und dann doch irgendwie ausgeschlossen? Das Internet gibt uns die Illusion, wir seien mehr als Statisten des Weltgeschehens, sondern wirklich an ihm beteiligt. Die Illusion, dass wir auch abseits etablierter Medienbürokratien mitreden können. Und die Wut, sie rührt daher, dass wir uns daran erinnern, dass wir doch nur zum Publikum gehören.

Hier ist ein russisches Propagandavideo aus Syrien. Ist das jetzt ultrarealistisch oder schon Computerspiel?


Montag, 12. Oktober 2015

"Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande": Das Zentrum für politische Schönheit spricht

Vor einigen Tagen dachte ich noch, ich müsse mich zur Erklärung meines Unbehagens an der pro-militärischen Ideologie des Zentrums für politische Schönheit noch mühsam durch eines ihrer Manifeste arbeiten und ihren intellektuellen Bezügen nachgehen. Ich hatte zwar schon Interviews mit Philip Ruch gelesen, in denen er zur Intervention in Syrien aufrief, und ich kannte auch schon sein 'Erweckungserlebnis Sebrenica', aber irgendwie war ich immer noch der Ansicht, bei seinem Militarismus handele es sich vor allem um eine Nebenerscheinung seiner - für mich zumindest - bizarren politisch-philosophischen Ansichten. Auch dachte ich, seine unkritische Unterstützung militärischer Interventionen im Namen der Menschenrechte wurzele vielleicht in einem gewissen politischen Unernst oder auch in Naivität - als habe er eben die letzten 20 Jahre damit verbracht hat, Aristoteles zu lesen, anstatt Nachrichten zu schauen.

Jetzt aber gab Philip Ruch der Frankfurter Rundschau ein Interview, das keine Fragen mehr offen lässt. Er wiederholt nicht nur die Forderung nach einem militärischen Einschreiten in Syrien, spezifisch gegen den kürzlichen russischen "Angriffskrieg", er bemüht auch das älteste Klischee aller alarmistischen Kriegstreiber, nämlich den Vergleich mit der appeasement-Politik Chamberlains im Angesicht von Hitler, um zum Widerstand und zu größerer Härte gegen Putin aufzurufen. Dessen erklärtes Ziel sei es nämlich, da ist sich Ruch sicher, "Europa zu destabilisieren." Finster fügt er hinzu: "Viele werden aufwachen, wenn es zu spät ist."

Die ganze Passage:
"Unser Nichts-Tun ist der wesentliche Faktor im Krieg in Syrien. Fassbomben und IS sind das direkte Produkt unserer Untätigkeit. Wo ist der Aufschrei zum russischen Angriffskrieg auf den Widerstand gegen einen der übelsten Diktatoren? Dass wir zuschauen, wie Russland sich die Krim schnappt, war das Signal für Putin, überhaupt in die Ukraine einzumarschieren. Churchill sagte 1938 über Chamberlain: Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie wählten die Schande. Und den Krieg werden sie jetzt auch noch bekommen.

Was wäre bei der Krim richtig gewesen?
Putin hat den erklärten Willen, Europa zu destabilisieren. Viele werden aufwachen, wenn es zu spät ist. Man hätte niemals zur Tagesordnung übergehen dürfen, als die ersten Meldungen verkleideter russischer Kampfverbände auf ukrainischem Territorium kamen. Der Westen ist blamiert. Das Signal, dass uns die Ukraine gleichgültig ist, war unüberhörbar. An Srebrenica lässt sich erkennen, wie Völkermord funktioniert. Im Juli 1995 wurden dort 8372 Bosnier ermordet. Blauhelmsoldaten standen daneben und intervenierten nicht. Im Gegenteil, sie haben die Männer noch von ihren Frauen getrennt und an die feindlichen Truppen ausgeliefert. Ratko Mladic hatte ganze vier Panzer losgeschickt, um zu erfahren, was der Westen zu tun gedenkt. Dazu muss man wissen: Es gibt nur eine einzige Straße, die nach Srebrenica führt. Man hätten nur diese Straße verteidigen müssen, um 40 000 Zivilisten in der ersten „Schutzzone“ der Vereinten Nationen wirksam zu beschützen und 8372 Menschen das Leben zu retten. Das Grauen von Srebrenica hätte mit der Bombardierung dieser vier Panzer in dieser Form niemals stattfinden können"
Ich möchte wirklich nicht die russische Aggression verharmlosen, oder die Natur der russischen Regierung. Aber gerade Ruchs unmittelbares Überschwenken vom Krieg in der Ukraine zu seinem offenbar ultimativen historischen Bezugspunkt, dem Massaker in Sebrenica, zeigt deutlich, dass es ihm hier weniger um Menschenrechte geht, als darum, sie opportunistisch in den Dienst einer Apologetik einer härteren, aggressiveren und unnachgiebigeren Haltung 'des Westens' gegen seine Feinde zu stellen. Oder was soll dieser Vergleich sonst? Sebrenica? Im ganzen Ukrainekrieg sind nicht so viele Menschen gestorben! Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?
Auch könnte nichts falscher sein, als die Behauptung, wir seien in Syrien "untätig." Das mag zwar für die Bundesrepublik zutreffen, aber bis vor kurzem war Russland fast das einzige Land mit einer größeren Luftwaffe, das dort keine Bomben geworfen hat. 'Der Westen' unterhält dort seit Jahren gemeinsam mit seinen verachtenswerten Verbündeten aus Arabien, sowie aus der Türkei (und auch Israel) sehr aufwendig eine Stellvertreterarmee und lässt mehr oder minder offen al-Quaida für sich kämpfen. Ich wiederhole auch noch einmal meine Hinweis aus dem letzten Post: Dank der Washington Post kann man mittlerweile zumindest das Budget der CIA für Einsätze in Syrien mit ca. $1 Milliarde jährlich bis vor kurzem beziffern. Das war aber nur ein Teil der Ressourcen, der Waffen und des Geldes, die seit Jahren den Krieg anheizen. Und immer schon, von Anfang an, hat man in Kauf genommen, radikale Islamisten zu stärken, solange diese nur auf der richtigen Seite stehen.

All das kann man finden, wie man will, man kann es ablehnen oder man kann man es als gerechtfertigt ansehen, weil es dem Kampf gegen Assad, "einen der übelsten Diktatoren" (Ruch) dient - aber man darf es nicht leugnen und behaupten, wir seien in Syrien untätig. 

(Im übrigen finde ich die innenpolitischen Aktionen des Zentrums für politische Schönheit, vor allem zur Flüchtlingskrise immer noch wunderbar und unterstützenswert. Und ihre Videos immer noch lahm.)

Montag, 5. Oktober 2015

Die Schönheit des Stellvertreterkrieges - ein paar Gedanken zum "Zentrum für politische Schönheit"

Das Zentrum für politische Schönheit macht gute und wichtige Arbeit. Ich finde zwar ihre Videos immer ziemlich schlecht, würde mich vermutlich auch bei ihrem Theaterstück langweilen, aber ihre Aktionen machen Eindruck und haben echte Durchschlagskraft. Vor allem: Wir brauchen sie. Sie setzen Themen auf die Tagesordnung, die in Deutschland zwar dem kritischen Teil der Öffentlichkeit großes Unbehagen bereiten, die aber trotz allem nicht wirklich umkämpft sind. Die Aktionen sind direkt, aggressiv und wenig auf die Feinheiten und Konventionen des "Diskurses" bedacht. Besonders gefällt mir diese Aktion, als das Zentrum 25.000 Euro Belohnung aussetzte, um zumindest einen der Eigentümer von Krauss-Maffei Wegmann ins Gefängnis zu bringen. Sie lenkten so nicht nur Aufmerksamkeit auf die verabscheuungswürdigen Geschäfte mit dem Terrorstaat Saudi Arabien, sie nutzten auch die Gelegenheit um die Profiteure des Ganzen genüsslich und in aller Öffentlichkeit bloßzustellen. Man merkt der Aktion richtig an, wie sie es genießt, diese abscheulichen Menschen zu demütigen - es ist dies eine Freude, die man sich als Aktivist keineswegs versagen sollte. 

Was zu der Frage führt: Gibt es in Deutschland überhaupt Aktivisten? Vor allem Aktivisten, deren Aktivitäten darüber hinausgehen, ab und zu Schaufenster und Polizeiwagen zu zerschlagen? 

Denn eines ist klar: Wenn das Zentrum für politische Schönheit die politische Avant-Garde unserer Zeit darstellt, ist das zwar rühmlich für sie - aber für unser Land ist es vor allem ein Armutszeugnis. Sie selbst sagen das ja auch: Ihr Programm des "radikalen Humanismus" sei vor allem eine Reaktion auf eine politische und moralische Krise. Es ist der Versuch, ein Vakuum zu füllen. Dabei geht es ihnen nicht nur darum, wie das ja alle wollen, die Menschen "aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln" oder ähnliches. Sie streben nach höherem: Sie wollen mit ihrer Arbeit gegen die Ziellosigkeit der postmodernen Gegenwart einen großen, veredelnden Kampf setzen - den Kampf für die Menschenrechte. Es geht ihnen darum, Fukuyama folgend, die träge blinzelnden "letzten Menschen" zu Taten echter Größe anzuleiten. Der Kampf gegen das Elend der Welt als Stimulanz gegen die Würdelosigkeit und Langeweile am "Ende der Geschichte": Die Menschenrechte als "letzte Utopie."

Ach ja, außerdem wollen sie, dass wir in Syrien einmarschieren.

Es ist vor allem das prinzipielle Eintreten für humanitäre Kriegseinsätze, das mich etwas misstrauisch macht. Kriege für die Menschlichkeit, hatten wir davon nicht genug in letzter Zeit? In Afghanisten, im Irak, in Lybien? Und vor allem: Wie oppositionell ist eine Gruppe, die außenpolitisch ähnliche Rezepte vertritt wie Wolfang Ischinger?

Um diese Fragen zu ergründen, hilft es, sich den Text über den "aggressiven Humanismus" anzusehen, der auf der Website des Zentrums wie eine Art Manifest präsentiert wird. Ausgangspunkt dieses Textes ist die Frage, warum Demokratien unfähig sind, "große" Menschenrechtler hervorzubringen. Mit dieser Fragestellung folgen sie unmittelbar Fukuyama, dessen Name ja allgemein mit dem Triumphgeheul der 90er über den angeblichen Endsieg der liberal-demokratischen Ordnung verbunden wird, der aber tatsächlich von großen zivilisationskritischen Ängsten getrieben wurde. Im Ende aller Utopien, der mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt, liegt ebenso schon die Gefahr des Nihilismus. Das Ergebnis ist ein post-heroisches, langweiliges Zeitalter, dem jede idealistischen Energien fehlen. Nicht einmal der Kampf für Menschenrechte kann noch Menschen begeistern: "Wie ist das möglich," fragt das Manifest, "dass eine der größten Ideen der Menschheit in Deutschland derart blutleer, leidenschaftslos, langweilig und uninteressant geworden ist?" Es formuliert sich hier das Unbehagen daran, dass uns "letzten Menschen" nur noch ein kleines, unbedeutendes Leben beschieden ist. Wie glücklich ist dagegen der, dem eine Sache noch so viel bedeutet, dass der Kampf für sie ihn erfüllen kann! Und was könnte uns müde, satte Wohlstandszombies mehr erregen als die Empörung über ferne Verbrechen? Welche bessere Stimulanz, um unsere Malaise zu beenden, als ein neuer Kampf für den Schutz der Menschenrechte?

Die Ideologie des Zentrums für politische Schönheit erinnert damit an die Vordenker des amerikanischen Neokonservatismus, deren Namen von Leo Strauss und Allan Bloom bis hin zu Fukuyama im Manifest des "aggressiven Humanismus" alle fallen (eingerahmt von Herfried Münkler und Bernard Henri Lévy, um es noch schlimmer zu machen!). Den größten Einfluss hatten diese Denker, bis sie jetzt deutsche Menschenrechtsaktivisten inspirierten, vor allem auf die US-amerikanischen Vertreter einer aggressiven, ultra-imperialistischen Außenpolitik, die seit Reagan erstarkten und dann nach dem 11. September für einige kurze und katastrophale Jahre fast völlig die Kontrolle über die amerikanische Regierung übernahmen. 

Auch für diese Ideologen des "neuen amerikanischen Jahrhunderts", diese Romantiker des amerikansichen Imperialismus, stand die Frage nach "politischer Schönheit" im Vordergrund. Nur schlossen sie noch viel unmittelbarer den Kampf für Ideale wie Freiheit, Demokratie und die Verbreitung der Menschenrechte mit der Bereitschaft zum Krieg kurz. Für die Neokonservativen stellte sich - lange bevor sie den Irakkrieg anzettelten - die Frage, wie man den gewaltigen Militärapparat des amerikanischen Imperiums auch nach dem Kalten Krieg erhalten konnte. Wie schafft man es, ohne das Grundgerüst eines globalen Krieges gegen ein "böses Imperium", den permanenten Kriegszustand beizubehalten? Wie schafft man es, den globalen Sicherheitsapparat aus Armee und Geheimdienst nicht nur zu legitimieren, sondern ihn auch noch weiterhin mit positiven, heroischen Emotionen zu besetzen? Mit anderen Worten: Wie kann man die Sehnsucht nach "politischer Schönheit" in den Dienst des Krieges stellen?

Gemein mit den Neokonservativen ist dem Zentrum für politische Schönheit dann auch ein Unbehagen am selbstbezogenen Genießen unseres Wohlstandes. Die westliche Dekadenz nimmt uns die Fähigkeit, uns einer Sache zu widmen, die größer ist als wir. Zwar meinen Neokonservative damit vor allem die Wehrbereitschaft, aber strukturell ist die Argumentation vergleichbar. Das Zentrum schreibt etwa, mit Bezug auf Allan Bloom:
"[Die konventionellen Menschenrechtler] kämpfen nicht um Menschenrechte. Sie schlummern für sie. Und dies trotz der Tatsache, dass ihre Klientel — Hunderte von Millionen Menschen — in Elend sterben. Statt Streiks zu organisieren, Straßen zu blockieren, Politiker zu beschimpfen und Nachrichtensender zu besetzen, sind sie Teil jener Strandurlauber, die der amerikanische Philosoph Allan Bloom so unnachahmlich beschrieben hat: „Für mich ist es ein Symbol unserer derzeitigen geistigen Situation, wenn ich mich an die Wochenschauaufnahmen von fröhlich im Meerwasser planschenden Franzosen erinnere, die ihren bezahlten Jahresurlaub genossen, den Léon Blums Volksfrontregierung gesetzlich eingeführt hatte. Das war 1936, im selben Jahr, in dem man zuließ, daß Hitler das entmilitarisierte Rheinland wieder besetzte. All die großen Dinge, die uns bewegen, laufen letzten Endes auf so etwas wie diesen Urlaub hinaus.“ 
Es ist also die Dekadenz unserer satten Wohlfahrtsstaatengesellschaft, die uns gleichgültig und würdelos werden lässt und unsere Bereitschaft zum Kampf schwächt. (Wozu ich anmerken muss, dass sich meiner Meinung nach die eigentliche Dekadenz darin ausdrückt, für die politische Schönheit der Urlaubspolitik der Volksfrontsregierung nicht mehr empfänglich zu sein - es handelt sich dabei um einen der Höhepunkte der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.) Unser Staat ist hässlich und klein geworden und kreist bloß noch um die materiellen Belange einer abgestumpften Bevölkerung. Was wir brauchen, ist eine Berufung, eine Mission - etwas, was unserem Staat einen neuen Glanz verleihen kann:
Politik kann Politikverdrossenheit nur aufbrechen, wenn sie den Faktor politische Schönheit ernst nimmt und Entscheidungen und Taten daran ausrichtet. Machtzentren trocknen innerlich aus, wenn es nicht über politische Poesie nachdenken (Münkler 2009: 266). Die menschliche Seele braucht das Gefühl von Größe, Schönheit, Gerechtigkeit und Anstand. Diese epochalen Gefühle vermögen sich bei der Politisierung der Sozialversicherungs-, Renten- und Gesundheitssysteme nicht richtig einzustellen. Das könnte aber der globale Schutz der Menschenrechte leisten.
Nochmal wiederholt: Das könnte der globale Schutz der Menschenrechte leisten - er könnte unserem Staat eine neue Größe und Würde verleihen, indem er ihm ein Ziel gibt, das über das bloße Verwalten unserer Gesellschaft hinausweist. 

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich der Ansicht, dass das Zentrum für politische Schönheit keine Lösung für unsere politische Krise liefert, sondern im Gegenteil ein Ausdruck dieser Krise ist. Wenn man das Manifest liest, wird da ganz schön viel um uns selbst gekreist, um unsere Befindlichkeiten, unseren Nihilismus, etc. - das, was aber tatsächlich im Zentrum stehen sollte, die Verbrechen, die überall auf der Welt begangen werden, bleibt ziemlich im Schatten. Es spielt fast eine Nebenrolle. Der Text bietet weder eine Analyse der Weltlage oder unserer Herausforderungen in ihr, noch ein Hinweis auf die Weise, auf die unsere Gesellschaft komplizenhaft in ihre Grauen verstrickt ist. Er bietet auch keine politische Vision, keine Vorschläge für eine Neuausrichtung unserer Politik - außer: das wir helfen sollen. Wie? Auf welche Weise? Was ist das Ziel?

Nimmt man dann noch hinzu, dass das Zentrum für politische Schönheit prinzipiell militärische Lösungen zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit vertritt, aber an keiner Stelle darüber reflektiert, was die politischen Implikationen dieser Haltung sind und wessen Interessen man mit ihr unterstützt, welche Möglichkeiten man ausschließt, etc. dann ist das ein Problem. Im Universum des Zentrums für politische Schönheit gibt es weder Geopolitik noch eine Konkurrenz der Mächte - es gibt nur Verbrechen, und die Pflicht, zu handeln. Klingt irgendwie nach George Bush, oder?

Was mich stört an den Vertretern von "humanitären Interventionen" ist die Eingleisigkeit ihrer Argumentation: Du bist gegen den Krieg? Willst du etwa tatenlos zusehen, wie Assad die Zivilbevölkerung ermordet? Willst du dem Islamischen Staat nichts entgegensetzen? Glaubst du etwa nicht, dass Saddam Hussein ein Diktator war? Dass Gadaffi gestürtzt werden musste? Dass der Kommunismus ein verbrecherisches System ist? Und wo weiter und so fort.

Das humanitäre Argument beendet jede Diskussion. Es ist eine Pistole, die der Öffentlichkeit auf die Brust gesetzt wird. Die Kriegspartei will nicht, dass wir ihre Strategie grundlegend in Frage stellen, dass wir tiefgreifender überdenken, welche Außenpolitik wirklich den Frieden fördert und welche nicht. Sie will nicht, dass wir langfristig denken und uns der Geschichte der Konflikte bewusst werden. Der Kriegspartei gefallen wir verwirrt und manipulierbar, furchtvoll und ohne Bewusstsein langfristiger Zusammenhänge, gebannt auf die schrecklichen Bilder starrend, die jedes Zögern, jede Ambivalenz, jedes "Wegschauen" selbst zum Verbrechen machen.

Als im letzten Monat das fürchterliche Bild des aus Kobane stammenden Jungen um die Welt ging, der im Mittelmeer ertrunken war, was war der erste Reflex der Rupert-Murdoch-Presse? "Bomb Syria for Aylan!" Und das haben sie ja auch getan.


Was wir im Moment brauchen, sind gerade nicht neue Mittel der moralischen Erpressung, neue Katalysatoren der Medienhysterie, mit denen wir immer wieder neu dazu gebracht werden, uns der wachsenden Militarisierung unserer Außenpolitik zumindest nicht zu widersetzen. Was wir brauchen ist mehr Ehrlichkeit, mehr Transparenz in der Frage, was "der Westen" im Nahen Osten überhaupt erreichen will und welche Mittel uns dazu recht sind. Dabei hälfe uns eine gewisse Kaltschnäuzigkeit und Abgeklärtheit möglicherweise mehr als das Betroffenheitspathos des Zentrums für Politische Schönheit.

Die Diskussion sollte sich gerade nicht darum drehen, ob wir in Syrien gegen Assad intervenieren sollen, sondern ob es die richtige Strategie war, seit Jahren gegen ihn zu intervenieren. Und ob man den Kampf jetzt zu einem offenen Stellvertreterkrieg eskalieren lassen will.

Zum Abschluss will ich deshalb nur noch auf eine Meldung vom Juni aus der Washington Post verweisen, die bizarrerweise offenbar keine Resonanz in den deutschen Medien gefunden hat. Mit Bezug auf Dokumente, die Edward Snowden geleakt hat, ist es ihr nämlich zum ersten mal gelungen, genau den Umfang des CIA-Programmes in Syrien zum Zwecke des Sturzes Assads zu umreißen. 1 Milliarde Dollar jährlich, um eine militärische Infrastruktur im Hinterland zu organisieren, von dem indirekt selbst radikal-islamistische Milizen profitieren. Dazu die Unterstützung aller NATO-Geheimdienste, auch des deutschen. Dazu Waffen und Geld von unseren Verbündeten aus Arabien und der Türkei. Dazu Bombenangriffe auf den Islamischen Staat, und von Israel unmittelbar gegen Assad und Hezbollah. Ist das denn nicht Krieg genug? Oder ist er nicht schön genug?
 At $1 billion, Syria-related operations account for about $1 of every $15 in the CIA’s overall budget, judging by spending levels revealed in documents The Washington Post obtained from former U.S. intelligence contractor Edward Snowden.
 U.S. officials said the CIA has trained and equipped nearly 10,000 fighters sent into Syria over the past several years — meaning that the agency is spending roughly $100,000 per year for every anti-Assad rebel who has gone through the program.
 The CIA declined to comment on the program or its budget. But U.S. officials defended the scale of the expenditures, saying the money goes toward much more than salaries and weapons and is part of a broader, multibillion-dollar effort involving Saudi Arabia, Qatar and Turkey to bolster a coalition of militias known as the Southern Front of the Free Syrian Army.
 Much of the CIA’s money goes toward running secret training camps in Jordan, gathering intelligence to help guide the operations of agency-backed militias and managing a sprawling logistics network used to move fighters, ammunition and weapons into the country.
    [...]
 Opposition leaders in southern Syria, where the CIA-trained fighters are concentrated, said the groups have recently become better organized and more effective in their use of heavier weapons, including U.S.-made TOW antitank missiles.
    [..]
 Despite those gains south of Damascus, experts and officials said that the most significant pressure on Assad’s regime is in northern Syria, where the Islamic State is on the offensive. At the same time, a separate coalition of rebel groups known as the Army of Conquest has taken advantage of infusions of new weapons and cash from Saudi Arabia, Turkey and Qatar.