Communism

Communism

Donnerstag, 23. Juli 2015

Die Wahrheit

"to escapism, to rain on the roof and instant coffee, to unemployment insurance and library cards, to absinthe and good-hearted landlords, to music and warm bodies and contraceptives"

Ich glaube, das lasse ich mir auf den Rücken tätowieren. Am besten den ganzen Brief. 

Hunter S. Thompson konnte gut schreiben: witzig und präzise, unsentimental aber ausdrucksstark, immer im direkten, fast wie gesprochenen Dialog mit dem Leser, und trotzdem komplex und voller Argumentation. Ich glaube, ich habe noch nie von einem anderen Autor auch noch die Briefe gelesen, aber bei ihm lohnt es sich, denn da ist auf jeder Seite diese Stimme.

Nicht, dass ich wirklich und mit voller Hingabe so leben könnte, wie er es hier anpreist, dazu mangelt es mir wohl an psychischer Kraft. Wie jeder Spross des akademischen Bürgertums kann ich zwar in Gedanken andere Prioritäten setzen als die der "Wirtschaft", aber letztlich kommen wir alle aus einer langen Linien von Untertanen, und die Angst vor der Arbeitslosigkeit, die Scham darüber, nicht zu Diensten zu sein, sitzt uns zu tief in den Knochen. Es ist sogar noch schlimmer: wir lieben unsere Jobs! Die frühindustrielle Kultur schämte sich wenigstens noch ab und zu für ihren untertänigen Fleiß: mit dem Adel gab es eine Schicht, die stolz darauf war, nicht zu arbeiten, und mit der Kirche eine Institution, die dafür verehrt wurde, dass sie über der irdischen Mühsal stand - und niemandem wäre es eingefallen, dass es so etwas wie tiefempfundene, sinnstifftende "berufliche Erfüllung" überhaupt gibt. 

Man internalisiere dazu noch den ultramoderne Gedanken, dass wir unseren Wert erst einmal selbst unter Beweis stellen müssen, dass also berufliches Scheitern wirklich ein Scheitern der gesamten Persönlichkeit darstellt, und es lösen sich schnell alle kritischen Gedanken über künstliche Verknappung und die Irrationalität unseres Wirtschaftssystems in Luft auf. Vom 1-Euro-Jobber bis zum Bürosklavenworkaholic - die Kultur des Arbeitszwanges ist so mächtig wie je, selbst Künstler, selbst Professoren sind heute Angestellte, die permanent auf die nächste performance review hinarbeiten.

Nicht dass an Arbeit prinzipiell etwas auszusetzen ist. Aber ich glaube, dass es ein Ausdruck der Stagnation unserer Kultur ist, dass wir weder eine Kritik der entfremdeten Arbeit, noch eine Vision eines Lebens ohne Lohnarbeit überzeugend formulieren können. Im kapitalistischen Realismus gibt es auch zum Job keine Alternative - oder wenn, dann ist es nur ein weiterer Schwachsinn, den dir jemand andrehen will:
Catalyse has all the energy, fun and playfulness of Morning Gloryville, combined with a three part programme built around our 'rave your way into the day' experience
Our transformational and inspiring environment aligns both team engagement and values-led objectives, to deliver:
Improved Health + Well Being
Enhanced Happiness + Joy
Expanded Perspective + Mindfulness
(Neoliberale Poesie!)

Vielleicht ist es ironischerweise unsere illusionslose Nüchternheit, die uns ausgerechnet jetzt, wo der Überfluss fast grenzenlos ist, umso mehr dem Arbeitsethos unterwirft. Selbst wir Deutschen, selbst unsere puritanischen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite des Atlantik, haben zwar mittlerweile gelernt, freie Zeit zu verbringen, zu ertragen und ab und zu sogar zu genießen. Und sicher würden die meisten auch sagen, dass es wichtigere Dinge in ihrem Leben gibt, als ihre Arbeit - und bei einigen würde das vielleicht sogar stimmen. Aber wir haben immer noch keine Vorstellung davon,  wie es möglich ist, dem Leben grundlegend eine eigene Richtung, einen Sinn und eine Form zu geben, ohne sich dazu vor allem auf die Lohnarbeit zu stützen. 

Wenn etwas verschwindet, ohne dass etwas anderes entsteht, ergibt das keine Befreiung, sondern Leere. Das ist der echte Sinn des düsteren Mantras, das auf den ersten Blick nur wie ein reiner Widerspruch zu Thompsons Lässigkeit verstanden werden könnte:
"The world is what it is; men who are nothing, who allow themselves to become nothing, have no place in it."
Man muss sehr gefestigt sein, um unter Arbeitslosigkeit nicht zu leiden, viele eigene Antriebe und auch unabhängig von der langweiligen bürgerlichen Konvention der regelmäßigen Erwerbsarbeit ein Gefühl des eigenen Wertes besitzen. Das gilt für den Einzelnen wie für das Ganze. Eine Kultur, die nur Arbeit kennt und der die Arbeit ausgeht, wird wahnsinnig. Oder depressiv, wie Thüringen*. Die Beschränkung der Arbeitszeit war einmal die grundlegende Forderung jeder progressiven Politik, bis hin zur utopischen Vorstellung, dass eines Tages die Lohnarbeit zur Nebensache werden würde. Warum ist das heute so vergessen? Weil uns allen eingeredet wird, dass wir froh sein können, überhaupt Arbeit zu finden? Sicher. Weil es uns erlaubt, auf die faulen Franzosen mit ihrer 30-Stunden-Woche herabzublicken, von gewissen anderen südeuropäischen Ländern ganz zu schweigen? Auch das ist leider wahr - wer selber mit seiner Situation unzufrieden ist, kann sich zumindest daran aufrichten, auf andere hinabzublicken. Aber hat es nicht auch mit dem Fehlen einer positiven Vision zu tun, wie eine Gesellschaft, ein Leben aussehen könnte, in dem nicht mehr der wirtschaftliche Überlebenskampf zentraler Motor ist? Vor allem dem Fehlen einer Vision, die nicht nur für pseudo-Bohemiens, Akademiker und Partyleute funktioniert, sondern auch für normale, langweilige Menschen?

Mir gefällt Corey Robins Konzept eines anti-utopischen Utopismus. Neoliberale Freiheit ist vor allem der Zwang, permanent und unter großem Druck das persönliche und berufliche Projekt zu verfolgen und an der Selbstoptimierung zu arbeiten - wir müssen uns jeden Tag zu tausenden Sachen zwingen, die wir eigentlich nicht tun möchten. Das heißt wohl Erwachsensein.
"In real (or at least our preferred) life, we do have other, better things to do.  We have books to read, children to raise, friends to meet, loved ones to care for, amusements to enjoy, drinks to drink, walks to take, webs to surf, couches to lie on, games to play, movies to see, protests to make, movements to build, marches to march, and more. Most days, we don’t have time to do any of that. We’re working way too many hours for too little pay, and in the remaining few hours (minutes) we have, after the kids are asleep, the dishes are washed, and the laundry is done, we have to haggle with insurance companies about doctor’s bills, deal with school officials needing forms signed, and more."
Im Gegensatz dazu ist echte Befreiung deshalb nicht mit einem euphorischen Glücksversprechen verbunden, sondern steht nur für die Möglichkeit, sein Leben nach selbstgewählten Kriterien auszurichten - oder, schlimmer noch: zum ersten mal wirklich mit der Frage konfrontiert zu werden, nach welchen Kriterien man sein Leben ausrichten möchte. Wie er es an anderer Stelle ausdrückt: "the point of socialism is to convert hysterical misery into ordinary unhappiness. God that would be so great." 

Um also die Befreiung von der Arbeit wieder auf die Tagesordnung zu setzen, müssen wir erst einmal das Selbstbewusstsein aufbringen, zu behaupten, dass - auch wenn wir nichts besonderes sind, sondern einfach nur langweilige, unglückliche Durschnittsmenschen - es unendlich viele Dinge auf der Welt gibt, die wichtiger und notwendiger sind als jede Arbeit, und jeder angehäufte Reichtum sowieso.

Wer das als adoleszentes Rumgejammere über die böse, harte Welt abtun will, die es einem nicht erlaubt, jeden Tag auszuschlafen, der soll sich vor Augen halten, dass er vor hundert Jahren sicher mit der gleichen verbissenen Selbstgerechtigkeit über die Idee gelacht hätte, dass auch die unteren Schichten ein Recht auf Freizeit oder - man stelle sich das vor - persönliche Erfüllung haben. Alles ist relativ, klar, aber nichts ist verlogener als die falsche Knappheitsrethorik, die immer nur von einigen Opfer und Disziplin verlangt, den Luxus der anderen aber als ihr gott-gegebenes Recht akzeptiert.

Eine der offenbar am tiefsten empfunden Stellen in Deutschland schafft sich ab handelt davon, dass gerade Menschen aus der Unterschicht Schwierigkeiten damit haben, ihr Leben selbst zu gestalten und deshalb für ihr Glück auf die disziplinierende Wirkung regelmäßiger harter Arbeit besonders angewiesen sind. Das ist das größte Gift: die Vorstellung, dass unsereins - gebildet, reich, kultiviert und hip - natürlich die "Kompetenz" besitzt, auch ohne äußeren Zwang ein erfülltes, interessantes, sogar "produktives" Leben zu führen, die "anderen" aber nur vor dem Fernseher sitzend verkommen würden, triebe man sie nicht permanent zur Arbeit an.

Dekadenz ist gut, aber bitte nicht nur als individueller lifestyle. Dekadenz ist unser aller Schicksal und Aufgabe, unsere kollektive Zukunft. Es wird Zeit, dass wir beginnen, uns mit dem nötigen Ernst auf sie vorzubereiten.



*Wobei ich noch nie in Thüringen gewesen bin und auch kaum Thüringer kenne - aber ihr wisst schon, was ich meine!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen