Communism

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Mittwoch, 30. September 2015

Die ungarische Verschwörung

Jobbik-Parteibüro in Budapest
Im Zug nach Ungarn, 3. September
Der Notstand steht erst bevor, 15. September
Endstation Serbien?, 24. September

Drei Artikel sind von mir im Migazin im September erschienen, jeweils Momentaufnahmen der sich schnell entwickelnden, oft ungewissen Situation in Ungarn und auch in Serbien. Außerdem gibt es noch zwei Blogposts, hier und hier.
Die ungarische Krise dieses Sommers, das zumindest hat die Regierung erreicht, ist mittlerweile vorbei. Gelöst ist sie natürlich nicht, sie wurde bloß an andere Orte verlegt, nach Serbien, nach Kroatien, nach Österreich und nach Deutschland - das habe ich persönlich schon daran gemerkt, dass die Ausreise aus Ungarn problemlos möglich war, unser Zug über Salzburg wegen der neuen deutschen Grenzkontrollen aber gestrichen wurde.

Irgendwo zwischen Passau und Regensburg saßen wir dann in einem völlig überfüllten ICE mit einer Gruppe Syrer, Libanesen, und Iraker zusammen. Ich hatte in den letzten Wochen viele Flüchtlinge getroffen, aber diese machten mir einen starken Eindruck, auch weil man sehen konnte, wie groß die Unterschiede zwischen den Flüchtenden aus dem Mittleren Osten sind. Man sagt ja immer, dass man bald wieder in Deutschland am Gebiss die soziale Schicht wird ablesen können, und so war es auch hier: Die Libanesen [rückblickend: keine Ahnung ob wirklich Libanesen. Vielleicht auch Syrer aus Damskus o.ä., die später im Libanon lebten, o.ä.] begrüßten uns mit einem strahlenden Erste-Welt-Grinsen und stellte sich tatsächlich als ziemlich wohlhabend heraus. Da ihr englischer Wortschatz begrenzt war, zeigte mir der eine Fotos und Videos aus dem Libanon: Seine schöne Freundin, seine Familie, sein Haus. Und immer und immer wieder: er selbst wie er in enger Badehose seine gestählten Muskeln präsentierte, nur unterbrochen von einem Video, das zeigt, wie er sich mit einem Haufen sonnenbebrillter Schränke (seine Freunde), laut Techno hörend, beim Grillen betrinkt. Und Gras raucht. Und sich betrinkt. Das war ihm sehr wichtig, dass ich verstehe, wie besoffen sie da waren.

Vielleicht hat das Universum diese Begegnung arrangiert, damit ich eine subtile Lektion über arabische Männlichkeitsrituale lerne, oder darüber, dass junge Menschen alle nur das gleiche im Kopf haben, egal woher sie stammen und welcher Religion sie vorheucheln anzugehören, um ihre Großeltern zu beruhigen. Oder aber die beiden haben einfach nicht bemerkt, was für eine Art Mensch ich bin (ein langweiliger Nerd nämlich), wegen dem kulturellen Graben und so, und dachten, ich würde mich einfach mit ihnen freuen, darüber, was für krasse Typen sie sind und wie gerne sie Schischa rauchen. Tatsächlich interessierte mich eher das Video, das sie auf der Überfahrt nach Griechenland im engen Gummiboot gedreht hatten, oder die Fotos vom türkischen Strand, wo ein halbes Dutzend dieser Boote bereit standen, um im günstigen Moment bestiegen zu werden. Aber das hätten sie nicht verstanden - was für eine merkwürdige Art der europäischen Dekadenz ist es auch, sich für diese Elendsbilder mehr zu interessieren, als für den Ferrari, den sie in Wien gesehen hatten? Und vor dem sie posierten wie die Möchtegern-Playboys, die sie waren? Oder das Sextape, dass einem von den zweien den ganzen langen Weg über den Balkan begleitet hatte und dass er natürlich unbedingt mit mir teilen musste. Auch seine Freundin war sehr hübsch, zugegeben, aber auch hier hätte mich eher interessiert ob sie im Libanon geblieben ist, ob er vorhabe, sie nach Europa nachzuholen... und auch hier blieben sie mir eine Antwort schuldig, als könnten sie einfach nicht verstehen, dass sich jemand für dieses deprimierende Detail interessieren könnte.

Aber wer weiß schon, was sie wirklich dachten. Das ist eine der Lektionen, die ich in den letzten Wochen gelernt habe: Wie schwierig es ist, sprachliche Barrieren zu durchdringen. Ob jetzt in der Transitzone von Keleti oder im Flüchtlingslager von Belgrad: Selten war es möglich, mit den Flüchtlingen mehr als ein paar Worte gebrochenes Englisch zu wechseln. So kann man zwar einige Fakten erfahren, aber es ist fast unmöglich, Personen wirklich einzuschätzen. Das gleiche gilt in geringerem Maß sogar für die Ungarn: Zwar sprachen vor allem viele der Flüchtlingsaktivisten gutes Englisch und auch viele Medien berichten auf Englisch aus Ungarn (vor allem diese Seite war unverzichtbar für Übersetzungen ungarischer Texte), aber zwangsläufig kriegt man dabei nur eine einseitige Sicht der Dinge. Was die ungarische "Straße" denkt, die ja schließlich Orbán oder die erstarkende extrem-rechte Jobbik gewählt hat, ist so sehr viel schwieriger in Erfahrung zu bringen. Ungarn ist sehr leicht zu dämonisieren, und ich stimme bei der Kritik an Ungarn auch gerne mit ein, aber es ist trotzdem wichtig, dass wir verstehen, wie es zu der politischen Situation dort kommen konnte. Dazu ist es aber nötig, sich unvoreingenommen auf die Situation einzulassen. Ich hatte den Eindruck, dass die Regierung Orbán in der Berichterstattung der letzen Wochen oft weniger rational und einfach "böser" erschien als sie es tatsächlich war, einfach weil wir und unsere Medien sie gerne so haben wollten. Tatsächlich war Orbán, das muss man ihm zu Gute halten, einer der Akteure, der seine Position am klarsten gemacht hatte und bis zum Ende mit großem Erfolg an ihr festhielt und dafür auch in Ungarn politisch großen Zuspruch erntete. Er sitzt jetzt fester im Sattel als je: Die linke Opposition kann sich nicht zu einer klaren Haltung in der Flüchtlingskrise durchringen, wirkt also irrelevanter und bedeutungsloser als je zuvor, und seiner rechten Konkurrenz Jobbik hat er fürs erste den Wind aus den Segeln genommen. Dass er dafür aus dem Ausland viel Kritik einstecken musste, interessiert in Ungarn keinen Menschen, sondern macht ihn, ähnlich wie westliche Kritik an Putin, bei der konservativen Mehrheit höchstens noch beliebter.

Bei Souciant schrieb ich außerdem einen zweiteiligen Artikel (eins und zwei) über den politischen und europäischen Kontext in dem die ungarische Regierung handelte - und den sie sehr erfolgreich manipulierte. Das folgende Fazit ist schon ein wenig von den Ereignissen überholt, aber in vielem trifft es noch zu: Die Quotenregelung, wie sie von Deutschland und der Europäischen Kommission vertreten wurde, ist zwar durchgesetzt worden, Ungarn ist es aber gelungen, sich von ihr auszunehmen. Orbán muss gerade ein glücklicher Mensch sein: Er hat uns erst dazu gezwungen, Tausende Flüchtlinge aus Ungarn zu akzeptieren, um dann schließlich doch die Grenzen zu schließen. Jetzt ist der Weg bereitet für eine repressive Lösung der Flüchtlingsfrage auch auf europäischer Ebene, nur dass dieses mal - anders als bisher - nicht die Peripheriestaaten die Verantwortung übernehmen müssen, sondern auch Nordeuropa. Die deutsche Unschuld - an Bahnhöfen applaudieren, aber nichts davon wissen wollen, was an der europäischen Außengrenze passiert - die ist jetzt vorbei, und fast kann man Orbán dazu gratulieren, dass er unsere Selbstgefälligkeit auf die Probe stellt. Wie auch immer das neue europäische Grenzregime aussehen wird - das ist jetzt unsere Verantwortung (und war es natürlich schon immer).
When they [the refugees trapped in Budapest] decided, that Friday, to start marching towards the border in order to force a solution, they were certainly not acting on a whim. Instead, they made a calculated, collective tactical decision – they put a pistol to their heads and dared the European community to pull the trigger. And they succeeded. Even the Hungarian government was forced to send buses to transport them to the border, while at the same time, I am certain, lobbying behind the scenes for the Germans to accept them. It is ironic, however, that in this, the brave refugees of Keleti could be said to have worked in collaboration with the Hungarian government, which had always treated them so badly. Until Thursday, as refugees were still arriving at Budapest, and no solution was in sight, Martin Schulz was still correct when he said that a quota-system would also bring relief to Hungary. But now that Germany and Austria had had no other option but to open their borders, Hungary’s negotiating position in the upcoming talks was strengthened, making it more and more unlikely that it will be won over to a new quota-system – or at least a type of quota system which would put some of the burden on itself.
Just read the declaration by the Austrian Chancellor Faymann that day, in which he announced – on Facebook of all places – that the marching refugees would be allowed to cross the border. The final phrases read:
“Apart from this we expect Hungary to fulfill its European obligations, including the obligation to fulfill the Dublin-agreement. At the same time, we expect Hungary to be willing to solve / manage the existing burdens on the basis of the plan for the fair distribution of refugees as well as the emergency-mechanism, which are being pursued by the European Commission, and to which we today make a contribution.”
Faymann is desperately trying to spin his and Germany’s actions as a step towards the new quota-system of shared responsibility among all European countries that they are trying to put forward together with the European Commission in the coming weeks. I have great doubts, however, that the Hungarians saw it this way. As much as the Hungarian government is making angry noises at Germany and Austria for “making irresponsible promises,” they were very happy to see their country emptying out of refugees – while at the same time busily militarizing their border further.
In many ways, the current situation is similar to the Greek crisis, which has been, or seems to have been, resolved this summer. As with Greece, an untenable, dramatic crisis had first to be manufactured before a way forward could be found. Even the famous Varoufakis phrase “extend and pretend” describes perfectly the way in which strategically and opportunistically many still cling to the “European rules” of the moment, knowing full well that these rules are the problem and new ones will have to be created.
Once again, Europe is unable to overcome its divisions and find a functioning and lasting solution in the spirit of European and international solidarity. Instead, we let a bad situation get worse, and make the nationalist, selfish, and xenophobic solutions seem more rational by the day. Because that is, apparently, how we do things now in Europe. The victims of this are, of course, the refugees.

Donnerstag, 3. September 2015

Ein deutsches Problem in Ungarn.

Demonstration heute Abend vor dem Parlamentsgebäude.
Hier in Budapest bleibt die Lage verfahren. "Das Problem ist ein Deutsches Problem", kein Europäisches, denn die Flüchtlinge wollen nach Deutschland, sagte der ungarische Präsident Viktor Orbán heute in Brüssel. Jetzt wollen zwar einige EU-Staaten, allen voran Deutschland, das Problem mittels einer Quotenlösung wieder in ein ganz Europa betreffendes verwandeln, aber es ist fraglich, ob dies schnell genug passieren kann, um die seit einigen Tagen wachsende Krise in Budapest zu lösen. Tausende Flüchtlinge weigern sich - aus guten Gründen, wenn auch gegen den Geist des Gesetzes - in Ungarn in den Lagern zu verschwinden, sondern werden nichts anderes akzeptieren, als die Weiterreise in den Westen. Die Entscheidung der ungarischen Regierung, einigen Zügen die Abreise zu erlauben, sie dann aber in der Nähe von Budapest anzuhalten, hat nur zu einem neuen, und vielleicht noch dramatischeren, stand-off geführt, nun eben in Biscke anstatt vor Keleti. Der Verlauf des heutigen Tages ist hier gut dokumentiert.

Wenn man sich die Verlautbarung der ungarischen Bahn von heute Morgen anschaut, kann man den Flüchtlingen nicht übelnehmen, dass sie den Eindruck hatten, ihnen werde wie am Montag schon die Ausreise erlaubt. Dass dann die Züge nach einigen Kilometern gestoppt wurden, um sie dort, mittlerweile unter Ausschluss der Presse, zu räumen, war also entweder eine gemeine Finte - oder schlicht eine Fehlkalkulation seitens der Polizei, die erwartet hatte, dass die Flüchtlinge  in kleineren, isolierten Gruppen kooperieren würden. Eine Lösung ist also immer noch nicht absehbar: Die ungarische Regierung setzt auch mit dem bald erlassenen neuen Einwanderungsgesetz auf Abschreckung und eine Verschärfung der Kontrollen und der Kriminalisierung - und die Preise der Schlepper steigen dank der gestiegenen Nachfrage immer weiter.

Ich glaube immer noch, dass Orban eine Zuspitzung der Situation gerne in Kauf nimmt, dass er selbst die dramatischen Bilder von heute Nachmittag begrüßt. Denn erstens kann er damit die xenophobische Stimmung seiner Basis bedienen, welche vor allem nach Härte und Abschreckung ruft. Und zweitens kann er darauf spekulieren, dass Westeuropa bald diese Zustände nicht mehr hinnehmen wird und für eine Entlastung Ungarns sorgen wird, und sei es mittels der Öffnung der Grenzen für die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge. Ungarn möchte nicht wie etwa Italien als Grenzstaat mit der Flüchtlingslast allein gelassen werden, viele möchten am liebsten gar keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen - eine Eskalation der Situation ist deshalb sogar wünschenswert, denn erstens dient sie der Abschreckung und zweitens zwingt sie Westeuropa dazu, schnell zu akzeptieren, dass die meisten Flüchtlinge dort enden werden und nicht nach Osteuropa verteilt werden können. Aus der Neuverhandlung des Dublin-Systems ist eine Art internationales Game of Chicken geworden: Wer zu erst Schwäche zeigt, verliert. Und die ungarische Regierung ist offenbar zu einigem bereit. Gerade meldete die ZEIT etwa, dass sie das Angebot des UNHCR abgelehnt hat, ihr bei der Versorgung der gestrandeten Flüchtlinge zu helfen. Mehrere Tausend Menschen vor Keleti werden also auch morgen nur von wenigen Freiwilligen versorgt werden.


Dass Orban sich sicher fühlen kann, dass die meisten Ungarn seinen harten Kurs mittragen werden, habe ich leider bei der heutigen Demonstration gegen seine Flüchtlingspolitik erahnen können. Natürlich fand zum selben Zeitraum die Demonstration der Flüchtenden am Bahnhof statt, aber trotzdem war ich überascht davon, wie wenige Menschen vor dem Parlament zusammen kamen, um gegen Orbans Politik zu protestieren. (Motto: "Not in my Name".) Es war eine sehr ruhige Veranstaltung, und schnell vorüber. Die meisten Demonstranten schienen im mittleren Alter. Wenn man sich dagegen ausmalt, was in Deutschland, in Berlin erst mal, an (militanten) Demonstranten auf der Straße wäre - ich will die Beobachtung von heute abend nicht überbewerten, aber es scheint mir, als habe die Regierung in Ungarn keine starke linke Opposition.

Mittwoch, 2. September 2015

Eindrücke aus der Transitzone

(Mit Entschuldigung für die schlechten Fotos. Auch ein Video konnte ich nicht hochladen, welches die eindrucksvoll-lautstarken Demonstranten zeigt, vielleicht später noch...)

Für die Flüchtlinge in Keleti, dem Hauptbahnhof von Budapest, ist es eine grausame Situation: Nachdem am Dienstagmorgen plötzlich, ohne Ankündigung, ohne Erklärung, einigen Hundert erlaubt wurde, Züge nach Deutschland zu betreten, waren die mittlerweile mehreren Tausend Flüchtlinge, die den Bahnhof de facto in ein Flüchtlingslager verwandelt haben, voller Hoffnung. Durch die Türkei, durch Griechenland, durch Mazedonien, durch Serbien und schließlich über die befestige ungarische Grenze hatte sie ihr Weg bereits geführt. Anstatt aber dann in einem der Gefängnisartigen und international immer wieder heftig kritisierten ungarischen Lager zu verschwinden, anstatt von der ungarischen Polizei unter Vorwänden wieder nach Serbien ausgewiesen zu werden (es wird oft berichtet, dass die ungarische Polizei jeden Vorwand zur Kriminalisierung nutzt), haben sie sich weiter auf den Weg gemacht. Dabei sind sie auch angezogen von dem deutschen Versprechen, oder eher der Verlautbarung des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), für syrische Flüchtlinge, die bereits in Ungarn Asyl beantragt haben, das Dublin-Verfahren auszusetzen, sie also nicht wieder auszuweisen, sondern ihnen in Deutschland Asyl zu gewähren. (In gewisser Weise hat das BAMF damit nur die Realität anerkannt, dass die ungarischen Behörden selbst schon lange Zeit versucht hatten, diese Rückführung nach Dublin-Verordnung zu sabotieren, indem sie die Kooperation mit den deutschen Behörden so lange "verlangsamten", bis die Frist für die Rückführung abgelaufen ist, bzw. das oft schon aus rechtlichen Gründen vorher eine Rückführung nach Ungarn nicht möglich war. Was noch aussteht, und meiner Meinung überfällig ist, ist eine Anerkennung seitens der deutschen Behörden, dass die Zustände in Ungarn ähnlich unzumutbar sind wie etwa in Griechenland, und eine Rückführung deshalb für alle Flüchtlinge ausgesetzt werden müsste.)
Am Dienstag aber gab es Hoffnung auf ein baldiges Ende der Flucht. Viele hatten sich Zugtickets gekauft und erwarteten, endlich diese würdelose Zwischenstation so kurz vor dem sicheren Hafen überwunden zu haben, endlich die improvisierten Lager in der U-Bahn-Station des Budapester Bahnhofes verlassen zu können, wo sie ohne staatliche Unterstützung vor sich hin vegetierten.
Dann am Nachmittag die Enttäuschung: Alle Züge wurden angehalten und für einen Moment stand der Bahnhof still. Die Polizei, die sich bis dahin vom Bahnhof zurückgezogen hatte, begann damit, das gesamte Bahnhofsgebäude zu räumen. Anstatt die Kontrollen in den Zügen wiederaufzunehmen, richtete sie jetzt an den Eingängen Passkontrollen ein: Nur EU-Bürgern oder Ausländern mit gültigen Papieren war der Zutritt erlaubt. 


Spontan formierte sich eine Demonstration der Flüchtlinge. Als ich am Abend zum Bahnhof kam, hatten sie schon seit Stunden vor dem Haupteingang ausgeharrt, eine Sitzblockade errichtet und das Recht auf die Weiterfahrt verlangt. Ich hatte eine wütende Stimmung erwartet, aber davon war nichts zu merken. Auf dem riesigen Bahnhofsvorplatz lagerten überall die Familien, saßen auf Pappabdeckungen herum, hatten Zelte errichtet. Überall spielten Kinder. Man sah den Menschen an, dass sie schon einen weiten Weg hinter sich hatten und auch das Warten gewohnt waren.
(Video)
Die Demonstration vor dem Haupteingang war in einer kämpferischen Stimmung, aber aggressiv war sie nicht. Laut riefen Anführer Parolen in ein Megafon, laut schlugen die meist jungen Demonstrierenden im Takt Plastikflaschen aneinander. "Germany!", schrien sie, dann wieder "Syria" Syria" Syria!" "Euorpe don't let us become victims of smugglers", stand auf einem Schild. Es war erstaunlich wenig Polizei vor Ort, obwohl neben dem Bahnhof noch zahlreiche Einheiten warteten. Der Bahnhof wurde zwar förmlich belagert, war umringt von Tausenden von Menschen, aber niemals drohte die Stimmung zu kippen. Es war auch klar, woran das liegt: Nicht nur an der guten Organisation der Demonstrierenden selbst, die von mit Walkie-Talkies bestückten Aktivisten unterstützt wurden, sondern auch an der Gelassenheit, der Freundlichkeit der Flüchtenden. Geradezu herzlich wurden die paar Ungarn oder Touristen vor Ort behandelt, ebenso rücksichtsvoll die internationale Presse, die direkt vor der Blockade ihre Kameras aufgestellt hatte. Zum Ende des Abends, gegen elf, würden die Demonstranten stiller werden und schließlich sogar mit Besen den Vorplatz fegen. 


Für den einzigen Zwischenfall sorgte die Gegenseite. Mir war schon gleich - wie ich so in der Nähe des Korrespondenten der ARD herumlungerte, um zu hören, was er in die Kamera sagen würde - eine Gruppe von merkwürdigen jungen Männern aufgefallen, die irgendwie fehl am Platz wirkte: Ein Typ im Kampfanzug, die Arme gespreizt, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln. Brutal aussehende Typen mit großen, schwarzen Stiefeln, die Witze rissen und eine Weinflasche herumreichten. Ein bleicher, dürrer Jugendlicher, der sich verhielt, als sei er auf Speed, und nicht aufhören konnte, sich mit seinen langen Fingern durchs Gesicht zu reiben (wirklich).


Und tatsächlich, kaum waren zu einer ausreichend großen Meute angewachsen, oder hatten den nötigen Alkoholpegel erreicht, da packte einer von ihnen die ungarische Flagge aus und begann herumzubrüllen. Sie schrien auf ungarisch, natürlich, aber einen Spruch verstand ich doch ganz gut. Er reimte sich auch: "SA! SS! // RUDOLF HESS!"


Sofort waren sie von der Presse umringt, denen sie glücklich ins Gesicht schrien. Sofort waren auch die ungarischen Freiwilligen zur Stelle, um den ein oder anderen Demonstranten daran zu hindern, sich die Schreienden aus der Nähe anzusehen. Es waren merkwürdige Gestalten, abwechselnd geradezu cholerisch wütend, dann wieder in einer obszönen, provozierenden Feierstimmung am Witze reißen. Spielt sich zwischen diesen beiden Polen die Existenz der echten Straßennazis ab?

Aber auch diese Situation entspannte sich schnell, als klar wurde, dass keine Gefahr von den Faschisten ausging – obwohl es trotzdem erstaunt, dass es über eine halbe Stunde dauerte, bis ein einzelner Polizist zur Stelle war, um sich das alles aus der Nähe anzuschauen. Erst später bemerkte ich, dass sich um die Ecke eine Reihe von mit Schlagstöcken bewaffneten Polizisten aufgestellt hatte, nur für den Fall. Aber auch sie waren bald wieder verschwunden.

Eine ungarische Frau stellte sich dann der Gruppe entgegen und begann laut und ausdauernd mit ihnen herumzudiskutieren. Überhaupt war für einige beteiligte Ungarn dieses Erscheinen eines konkreten Gegners, dem man ein paar wütende Sätze zuwerfen konnte, offenbar sehr erleichternd. Denn die Gegenseite, an die man sich ja eigentlich richtet, blieb wie bei jeder Demonstration abwesend und gesichtslos, die Polizisten kühl, unbeteiligt, distanziert. Wenn die ungarische Regierung sich weigert, auch nur die Forderungen der Flüchtlinge zu kommentieren, geschweige denn mit ihnen in den Dialog zu treten, was bleibt einem dann noch?
 (I LOVE GERMEN - OPEN THE DOOR)
Später schlenderte ich dann kurz durch den Bahnhof. Es gab nur zwei kleine Seiteneingänge, die noch geöffnet waren, doch selbst um zu diesen zu gelangen, musste man einige Polizeiketten durchqueren. Dank meiner blonden Haare würdigt mich keiner der Polizisten auch nur eines Blickes. Niemand fragt nach meinen Papieren.

Der Bahnhof war zu dieser Uhrzeit bis auf die herumlungernde Polizei fast menschenleer, aber der Fahrbetrieb ging offenbar ganz normal weiter. Nur die U-Bahn-Station, welche zur zeitweiligen Heimat der Gestrandeten geworden ist, war durch Gitter versperrt.



Draußen begannen sich die Menschen auf eine weitere Nacht in der Transitzone vorzubereiten. Aus einem Supermarkt wurden Pakete von Wasserflaschen herangeschleppt. Aus einem Van verteilte eine völlig überforderte, seit Tagen am Limit arbeitende Freiwilligengruppe (vermutlich MigrationAid) Essen, vor allem Obst. Bis heute gibt es für die mehreren Tausend Flüchtlinge am Bahnhof keine Unterstützung von der Stadt oder vom Staat. Nur ein Wagen des Malteser-Notdienstes war vor Ort, umringt von hilfesuchenden Familien mit kleinen Kindern. Immer wieder hört man die Frage: Wo ist Orban? Wo ist der Staat? Fühlt sich niemand verantwortlich? Warum ist nur die Polizei vor Ort? Wäre so eine Situation in Deutschland überhaupt denkbar, ohne dass die Regierung zumindest in Kontakt mit den Demonstranten tritt?
 
Zuletzt bin ich mit einem Journalisten eines kurdischen Newsservice / Fernsehsenders ins Gespräch gekommen. Er sah unfassbar müde aus, denn seit zehn Tagen hatte er mit seinem Kamerateam die Flüchtlinge begleitet, seit zehn Tagen, sagte er, habe er die gleiche Hose an. Er hatte sich ihnen auf einer griechischen Insel angeschlossen, er hatte mit ihnen Mazedonien durchquert und es irgendwie durch Serbien und über die kürzlich befestigte ungarische Grenze geschafft. Und jetzt war er mit ihnen in Keleti und hatte sich, wie die Flüchtenden auch, versprochen, dass seine Reise erst mit ihnen in Deutschland zu Ende sein würde.
Er war auch Deutscher und vielleicht nahm er sich deshalb die Zeit, kurz mit mir zu reden, obwohl er kurz vor der Live-Schaltung stand und obwohl ihn immer wieder Menschen auf Arabisch ansprachen, die sich von ihm eine Erklärung der Situation erhofften. Ich hatte gar nicht begriffen, dass er Deutscher war: Er sah arabisch aus, stammt aus dem (kurdischen) Irak und erklärte auf Englisch mit einer bewundernswerten Geduld zwei naiven ungarischen Teenagern, wie verfahren, wie schwierig die Lage im Mittleren Osten wirklich ist - und warum der Westen sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen kann. Ich hatte mich nur dazugestellt und die Diskussion verfolgt, als er mich plötzlich in fließendem Deutsch ansprach und mir von seinem Journalistik-Studium in Köln erzählte. Vielleicht hatte er auch deshalb den skeptischen jungen Ungarn so überzeugend erklären können, dass die Flüchtlinge in Europa vor allem eine Zukunft suchen, keine Almosen, weil er eben seine eigene Erfahrung beschrieb.
Ich fragte ihn, warum die ungarische Polizei am Morgen überhaupt den Flüchtlingen erlaubt hatte abzureisen - warum sie plötzlich die Kontrollen eingestellt hatte, nur um sie dann am Nachmittag umso härter wieder einzusetzen. Gab es eine Logik hinter diesem Verhalten, oder war es ein reines Fehlverhalten der Polizei? Auch er wusste keine Antwort.
Ich bin mittlerweile überzeugt, dass der plötzliche Rückzug der ungarischen Polizei aus dem Bahnhof sehr bewusst angetreten wurde, dass es eine kalkulierte Aktion gewesen ist, ebenso wie die folgende Räumung die damit provozierte verfahrene Situation heute. Die ungarische Regierung versucht offenbar irgendwie die anderen EU-Staaten dazu zu zwingen, ihnen die Verantwortung für die Flüchtlinge abzunehmen – und da kommt ihnen eine so dramatische Situation wie jetzt am Bahnhof Keleti ebenso gelegen wie die immer wieder auftauchenden Berichte über die unwürdige Situation in ungarischen Camps. Das ist die zynische Kalkulation. Die ungarische Regierung, das hat sie in den letzten Monaten ausreichend bewiesen, hat kein Problem damit, eine unhaltbare Situation sogar noch zu verschlimmern. Die europäische Öffentlichkeit aber schon, und irgendwann wird sie nachgeben und Ungarn erlauben, den Flüchtlingen die Weiterreise zu genehmigen. Sogar die New York Times hat kürzlich gefordert, endlich die Dublin-Regelung aufzuheben. Die ungarische Regierung spielt auf Zeit – und nimmt es bewusst in Kauf, dass die Lage der Flüchtlinge in ihren Grenzen immer schlimmer werden wird.
Heute hat die Organisaton MigrationAid zu einer Demonstration vor dem Parlament aufgerufen, um endlich die Regierung dazu zu zwingen, ihre Verantwortung zu übernehmen. Auch vor dem Bahnhof ist die Situation wie gestern: die Polizei erhält die Blockade aufrecht, die Flüchtlinge demonstrieren. Noch ist keine Lösung in Sicht.