Communism

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Mittwoch, 2. September 2015

Eindrücke aus der Transitzone

(Mit Entschuldigung für die schlechten Fotos. Auch ein Video konnte ich nicht hochladen, welches die eindrucksvoll-lautstarken Demonstranten zeigt, vielleicht später noch...)

Für die Flüchtlinge in Keleti, dem Hauptbahnhof von Budapest, ist es eine grausame Situation: Nachdem am Dienstagmorgen plötzlich, ohne Ankündigung, ohne Erklärung, einigen Hundert erlaubt wurde, Züge nach Deutschland zu betreten, waren die mittlerweile mehreren Tausend Flüchtlinge, die den Bahnhof de facto in ein Flüchtlingslager verwandelt haben, voller Hoffnung. Durch die Türkei, durch Griechenland, durch Mazedonien, durch Serbien und schließlich über die befestige ungarische Grenze hatte sie ihr Weg bereits geführt. Anstatt aber dann in einem der Gefängnisartigen und international immer wieder heftig kritisierten ungarischen Lager zu verschwinden, anstatt von der ungarischen Polizei unter Vorwänden wieder nach Serbien ausgewiesen zu werden (es wird oft berichtet, dass die ungarische Polizei jeden Vorwand zur Kriminalisierung nutzt), haben sie sich weiter auf den Weg gemacht. Dabei sind sie auch angezogen von dem deutschen Versprechen, oder eher der Verlautbarung des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), für syrische Flüchtlinge, die bereits in Ungarn Asyl beantragt haben, das Dublin-Verfahren auszusetzen, sie also nicht wieder auszuweisen, sondern ihnen in Deutschland Asyl zu gewähren. (In gewisser Weise hat das BAMF damit nur die Realität anerkannt, dass die ungarischen Behörden selbst schon lange Zeit versucht hatten, diese Rückführung nach Dublin-Verordnung zu sabotieren, indem sie die Kooperation mit den deutschen Behörden so lange "verlangsamten", bis die Frist für die Rückführung abgelaufen ist, bzw. das oft schon aus rechtlichen Gründen vorher eine Rückführung nach Ungarn nicht möglich war. Was noch aussteht, und meiner Meinung überfällig ist, ist eine Anerkennung seitens der deutschen Behörden, dass die Zustände in Ungarn ähnlich unzumutbar sind wie etwa in Griechenland, und eine Rückführung deshalb für alle Flüchtlinge ausgesetzt werden müsste.)
Am Dienstag aber gab es Hoffnung auf ein baldiges Ende der Flucht. Viele hatten sich Zugtickets gekauft und erwarteten, endlich diese würdelose Zwischenstation so kurz vor dem sicheren Hafen überwunden zu haben, endlich die improvisierten Lager in der U-Bahn-Station des Budapester Bahnhofes verlassen zu können, wo sie ohne staatliche Unterstützung vor sich hin vegetierten.
Dann am Nachmittag die Enttäuschung: Alle Züge wurden angehalten und für einen Moment stand der Bahnhof still. Die Polizei, die sich bis dahin vom Bahnhof zurückgezogen hatte, begann damit, das gesamte Bahnhofsgebäude zu räumen. Anstatt die Kontrollen in den Zügen wiederaufzunehmen, richtete sie jetzt an den Eingängen Passkontrollen ein: Nur EU-Bürgern oder Ausländern mit gültigen Papieren war der Zutritt erlaubt. 


Spontan formierte sich eine Demonstration der Flüchtlinge. Als ich am Abend zum Bahnhof kam, hatten sie schon seit Stunden vor dem Haupteingang ausgeharrt, eine Sitzblockade errichtet und das Recht auf die Weiterfahrt verlangt. Ich hatte eine wütende Stimmung erwartet, aber davon war nichts zu merken. Auf dem riesigen Bahnhofsvorplatz lagerten überall die Familien, saßen auf Pappabdeckungen herum, hatten Zelte errichtet. Überall spielten Kinder. Man sah den Menschen an, dass sie schon einen weiten Weg hinter sich hatten und auch das Warten gewohnt waren.
(Video)
Die Demonstration vor dem Haupteingang war in einer kämpferischen Stimmung, aber aggressiv war sie nicht. Laut riefen Anführer Parolen in ein Megafon, laut schlugen die meist jungen Demonstrierenden im Takt Plastikflaschen aneinander. "Germany!", schrien sie, dann wieder "Syria" Syria" Syria!" "Euorpe don't let us become victims of smugglers", stand auf einem Schild. Es war erstaunlich wenig Polizei vor Ort, obwohl neben dem Bahnhof noch zahlreiche Einheiten warteten. Der Bahnhof wurde zwar förmlich belagert, war umringt von Tausenden von Menschen, aber niemals drohte die Stimmung zu kippen. Es war auch klar, woran das liegt: Nicht nur an der guten Organisation der Demonstrierenden selbst, die von mit Walkie-Talkies bestückten Aktivisten unterstützt wurden, sondern auch an der Gelassenheit, der Freundlichkeit der Flüchtenden. Geradezu herzlich wurden die paar Ungarn oder Touristen vor Ort behandelt, ebenso rücksichtsvoll die internationale Presse, die direkt vor der Blockade ihre Kameras aufgestellt hatte. Zum Ende des Abends, gegen elf, würden die Demonstranten stiller werden und schließlich sogar mit Besen den Vorplatz fegen. 


Für den einzigen Zwischenfall sorgte die Gegenseite. Mir war schon gleich - wie ich so in der Nähe des Korrespondenten der ARD herumlungerte, um zu hören, was er in die Kamera sagen würde - eine Gruppe von merkwürdigen jungen Männern aufgefallen, die irgendwie fehl am Platz wirkte: Ein Typ im Kampfanzug, die Arme gespreizt, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln. Brutal aussehende Typen mit großen, schwarzen Stiefeln, die Witze rissen und eine Weinflasche herumreichten. Ein bleicher, dürrer Jugendlicher, der sich verhielt, als sei er auf Speed, und nicht aufhören konnte, sich mit seinen langen Fingern durchs Gesicht zu reiben (wirklich).


Und tatsächlich, kaum waren zu einer ausreichend großen Meute angewachsen, oder hatten den nötigen Alkoholpegel erreicht, da packte einer von ihnen die ungarische Flagge aus und begann herumzubrüllen. Sie schrien auf ungarisch, natürlich, aber einen Spruch verstand ich doch ganz gut. Er reimte sich auch: "SA! SS! // RUDOLF HESS!"


Sofort waren sie von der Presse umringt, denen sie glücklich ins Gesicht schrien. Sofort waren auch die ungarischen Freiwilligen zur Stelle, um den ein oder anderen Demonstranten daran zu hindern, sich die Schreienden aus der Nähe anzusehen. Es waren merkwürdige Gestalten, abwechselnd geradezu cholerisch wütend, dann wieder in einer obszönen, provozierenden Feierstimmung am Witze reißen. Spielt sich zwischen diesen beiden Polen die Existenz der echten Straßennazis ab?

Aber auch diese Situation entspannte sich schnell, als klar wurde, dass keine Gefahr von den Faschisten ausging – obwohl es trotzdem erstaunt, dass es über eine halbe Stunde dauerte, bis ein einzelner Polizist zur Stelle war, um sich das alles aus der Nähe anzuschauen. Erst später bemerkte ich, dass sich um die Ecke eine Reihe von mit Schlagstöcken bewaffneten Polizisten aufgestellt hatte, nur für den Fall. Aber auch sie waren bald wieder verschwunden.

Eine ungarische Frau stellte sich dann der Gruppe entgegen und begann laut und ausdauernd mit ihnen herumzudiskutieren. Überhaupt war für einige beteiligte Ungarn dieses Erscheinen eines konkreten Gegners, dem man ein paar wütende Sätze zuwerfen konnte, offenbar sehr erleichternd. Denn die Gegenseite, an die man sich ja eigentlich richtet, blieb wie bei jeder Demonstration abwesend und gesichtslos, die Polizisten kühl, unbeteiligt, distanziert. Wenn die ungarische Regierung sich weigert, auch nur die Forderungen der Flüchtlinge zu kommentieren, geschweige denn mit ihnen in den Dialog zu treten, was bleibt einem dann noch?
 (I LOVE GERMEN - OPEN THE DOOR)
Später schlenderte ich dann kurz durch den Bahnhof. Es gab nur zwei kleine Seiteneingänge, die noch geöffnet waren, doch selbst um zu diesen zu gelangen, musste man einige Polizeiketten durchqueren. Dank meiner blonden Haare würdigt mich keiner der Polizisten auch nur eines Blickes. Niemand fragt nach meinen Papieren.

Der Bahnhof war zu dieser Uhrzeit bis auf die herumlungernde Polizei fast menschenleer, aber der Fahrbetrieb ging offenbar ganz normal weiter. Nur die U-Bahn-Station, welche zur zeitweiligen Heimat der Gestrandeten geworden ist, war durch Gitter versperrt.



Draußen begannen sich die Menschen auf eine weitere Nacht in der Transitzone vorzubereiten. Aus einem Supermarkt wurden Pakete von Wasserflaschen herangeschleppt. Aus einem Van verteilte eine völlig überforderte, seit Tagen am Limit arbeitende Freiwilligengruppe (vermutlich MigrationAid) Essen, vor allem Obst. Bis heute gibt es für die mehreren Tausend Flüchtlinge am Bahnhof keine Unterstützung von der Stadt oder vom Staat. Nur ein Wagen des Malteser-Notdienstes war vor Ort, umringt von hilfesuchenden Familien mit kleinen Kindern. Immer wieder hört man die Frage: Wo ist Orban? Wo ist der Staat? Fühlt sich niemand verantwortlich? Warum ist nur die Polizei vor Ort? Wäre so eine Situation in Deutschland überhaupt denkbar, ohne dass die Regierung zumindest in Kontakt mit den Demonstranten tritt?
 
Zuletzt bin ich mit einem Journalisten eines kurdischen Newsservice / Fernsehsenders ins Gespräch gekommen. Er sah unfassbar müde aus, denn seit zehn Tagen hatte er mit seinem Kamerateam die Flüchtlinge begleitet, seit zehn Tagen, sagte er, habe er die gleiche Hose an. Er hatte sich ihnen auf einer griechischen Insel angeschlossen, er hatte mit ihnen Mazedonien durchquert und es irgendwie durch Serbien und über die kürzlich befestigte ungarische Grenze geschafft. Und jetzt war er mit ihnen in Keleti und hatte sich, wie die Flüchtenden auch, versprochen, dass seine Reise erst mit ihnen in Deutschland zu Ende sein würde.
Er war auch Deutscher und vielleicht nahm er sich deshalb die Zeit, kurz mit mir zu reden, obwohl er kurz vor der Live-Schaltung stand und obwohl ihn immer wieder Menschen auf Arabisch ansprachen, die sich von ihm eine Erklärung der Situation erhofften. Ich hatte gar nicht begriffen, dass er Deutscher war: Er sah arabisch aus, stammt aus dem (kurdischen) Irak und erklärte auf Englisch mit einer bewundernswerten Geduld zwei naiven ungarischen Teenagern, wie verfahren, wie schwierig die Lage im Mittleren Osten wirklich ist - und warum der Westen sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen kann. Ich hatte mich nur dazugestellt und die Diskussion verfolgt, als er mich plötzlich in fließendem Deutsch ansprach und mir von seinem Journalistik-Studium in Köln erzählte. Vielleicht hatte er auch deshalb den skeptischen jungen Ungarn so überzeugend erklären können, dass die Flüchtlinge in Europa vor allem eine Zukunft suchen, keine Almosen, weil er eben seine eigene Erfahrung beschrieb.
Ich fragte ihn, warum die ungarische Polizei am Morgen überhaupt den Flüchtlingen erlaubt hatte abzureisen - warum sie plötzlich die Kontrollen eingestellt hatte, nur um sie dann am Nachmittag umso härter wieder einzusetzen. Gab es eine Logik hinter diesem Verhalten, oder war es ein reines Fehlverhalten der Polizei? Auch er wusste keine Antwort.
Ich bin mittlerweile überzeugt, dass der plötzliche Rückzug der ungarischen Polizei aus dem Bahnhof sehr bewusst angetreten wurde, dass es eine kalkulierte Aktion gewesen ist, ebenso wie die folgende Räumung die damit provozierte verfahrene Situation heute. Die ungarische Regierung versucht offenbar irgendwie die anderen EU-Staaten dazu zu zwingen, ihnen die Verantwortung für die Flüchtlinge abzunehmen – und da kommt ihnen eine so dramatische Situation wie jetzt am Bahnhof Keleti ebenso gelegen wie die immer wieder auftauchenden Berichte über die unwürdige Situation in ungarischen Camps. Das ist die zynische Kalkulation. Die ungarische Regierung, das hat sie in den letzten Monaten ausreichend bewiesen, hat kein Problem damit, eine unhaltbare Situation sogar noch zu verschlimmern. Die europäische Öffentlichkeit aber schon, und irgendwann wird sie nachgeben und Ungarn erlauben, den Flüchtlingen die Weiterreise zu genehmigen. Sogar die New York Times hat kürzlich gefordert, endlich die Dublin-Regelung aufzuheben. Die ungarische Regierung spielt auf Zeit – und nimmt es bewusst in Kauf, dass die Lage der Flüchtlinge in ihren Grenzen immer schlimmer werden wird.
Heute hat die Organisaton MigrationAid zu einer Demonstration vor dem Parlament aufgerufen, um endlich die Regierung dazu zu zwingen, ihre Verantwortung zu übernehmen. Auch vor dem Bahnhof ist die Situation wie gestern: die Polizei erhält die Blockade aufrecht, die Flüchtlinge demonstrieren. Noch ist keine Lösung in Sicht.

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